Andreas Steinhofel
beklagen
musste. Nur wenige Wochen darauf verlor Glass das Baby, das
auszutragen sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Dianne, die auf
die Ankündigung von Nachwuchs entgegen meinen
Erwartungen nicht verärgert oder ablehnend, sondern
gleichgültig, fast gelangweilt reagiert hatte, zeigte sich von den
Ereignissen völlig verstört. Sie zog sich tief in sich selbst
zurück und wurde erst wieder zugänglich, als Glass aus dem
Krankenhaus entlassen wurde, wo sie einige Tage zur
Beobachtung verbringen musste, weil sie zu viel Blut verloren
hatte.
Ich war hilflos. Die Fehlgeburt trieb Glass in die weit
geöffneten Arme einer betäubenden Schwermut, die allem und
jedem in ihrer näheren Umgebung die Farben zu entziehen
schien und nichts als Grau hinterließ. Glass wirkte unerreichbar.
Erst Monate spater schüttelte sie die Depression ab, zögernd, als
nehme sie Abschied von einem treuen Freund. Auch ich verlor
einen Freund – Paleiko redete nicht mehr mit mir. Es war, als
wäre die schwarze Puppe unter dem Schrecken verstummt, der
mit der Fehlgeburt über Visible hereingebrochen war. In diese
farblose Zeit fiel auch Diannes und mein dreizehnter
Geburtstag, der unbeachtet kam und ging, eine einsame
Angelegenheit, denn niemandem war nach Feiern zumute.
Tereza, die uns sonst alljährlich zu diesem Anlass mit
unverbrauchter Frische und Begeisterung die Geschichte
unserer Geburt erzählte, während Dianne und ich mit
Lebensmittelfarben verseuchte Tortenstücke in uns
hineinschaufelten, blieb zum ersten Mal zu Hause.
Es war das Jahr, in dem Kat und ich uns einander zusehends
näherten, der Frühling ihrer ersten, noch hilflosen Streitereien
mit ihren Eltern. Uns in der Schule zusammen zu sehen, lachend
oder miteinander tuschelnd und im Beisein Diannes, mit der ich
meine neu gewonnene Freundin wie selbstverständlich teilte,
war ein gewohntes Bild. Irgendwann aber war dieses
Zusammensein, das sich vornehmlich auf die Pausen zwischen
den Unterrichtsstunden beschränkte, Kat nicht mehr genug.
Eines Tages stand sie vor der hohen Eingangstür Visibles, ein
kleines Gesicht mit hochroten Wangen. »Ihr habt mir nie
gesagt, dass ihr in einem Schloss wohnt«, war ihre einzige
Äußerung, bevor sie mit majestätisch erhobenem Haupt im
Handstreich das Gemäuer einnahm. Kat unterlief alle Verbote
ihrer Eltern mit Tricks, die selbst den ausgebufftesten
Verbrecher überrascht hätten. Wann immer sich ihr eine
Gelegenheit zum Davonlaufen bot, nahm sie, auch bei Wind
und Wetter, den langen Weg vom anderen Ende der Stadt nach
Visible in Kauf. Meist kam sie müde an, dann ließ sie sich von
Glass mit warmem Malzbier wieder aufpäppeln.
Ihre Anwesenheit machte aus Visible einen helleren Ort. Kat
nahm Dianne und mir die Angst vor den verschachtelten,
düsteren Korridoren des Hauses. Sie forderte uns auf, darin mit
ihr Verstecken zu spielen, nur um ungestüm und mit lautem
Brüllen aus dunklen Nischen hervorzuspringen, wenn wir es am
wenigsten erwarteten. Sie brachte uns bei, Entsetzen in entsetzte
Begeisterung zu verwandeln. Wie nur Kinder es können, lehrte
Kat uns die Lust an der Angst. Dafür liebte ich sie, und aus
Dankbarkeit schenkte ich ihr Sand, den Gable mir von einem
entfernten Strand mitgebracht hatte, abgefüllt in ein
Glasfläschchen. Der Sand war feinkörnig und gelb. Ich schüttete
ihn Kat über die geöffneten Hände und sagte: »So alt wirst du
mal werden, für jedes Korn ein Jahr. Dann kannst du niemals
sterben.«
In der Regel blieb Kat, bis nachmittags oder am frühen Abend
ihr erzürnter Vater mit dem Wagen vorfuhr um seine Tochter
abzuholen. Anfangs behandelte er Glass bei solchen
Gelegenheiten wie eine Kindesentführerin, heftige Worte
wurden gewechselt, wütende gegenseitige Drohungen
ausgestoßen. Glass bereiteten diese oft lautstarken
Auseinandersetzungen mehr Spaß als Verdruss, denn es waren
faire Kämpfe. Sie rechnete es Kats Vater hoch an, dass er –
ganz im Gegensatz zu seiner Frau – beträchtliche Mühen darauf
verwandte, die Vorurteile außen vor zu lassen, die von jenseits
des Flusses gegen die Mauern Visibles brandeten wie die
Wellen eines Ozeans, der keine Ebbe kannte. Irgendwann brach
der Widerstand des von den Eskapaden seiner Tocher
zunehmend entnervten Mannes zusammen, vielleicht weil er
einsah, dass selbst Kindesentführung zur Routine werden kann.
In die Begegnungen zwischen ihm und Glass schlich sich ein
freundlicher Unterton. Ohne es zu
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