Andreas Steinhofel
habe Wale beobachten können,
deren algenbewachsene Rücken wie Berge aus eisblauem
Wasser ragten, und er habe ihrem Gesang gelauscht. Die Welt
sei gewaltig, wir Menschen und unsere Probleme klein und
unbedeutend, nichts als Staub in den Händen der Zeit.
Es war das Jahr, in dem mein Körper sich verwandelte. Meine
Stimme wurde tiefer und brach. Eines Morgens erwachte ich,
den Kopf noch voller verschwommener Bilder, und fand eine
klebrig warme Pfütze auf meinem Bauch. Die Flüssigkeit
schmeckte salzig, wie die Haut der mir vor Jahren von Gable
geschenkten vertrockneten Seepferdchen; gleichzeitig war sie
von einer entfernten, merkwürdig schweren, nahezu
erstickenden Süße.
Es war das Jahr, in dem ich die Liste entdeckte, auf der
anstelle eines Männernamens die Nummer Drei stand.
In diesem Jahr hatte ich beunruhigende Träume, an die ich
mich nach dem Erwachen mit kristallklarer Deutlichkeit
erinnerte, wohl deshalb, weil so viele Grenzen sich zu
verschieben begannen, weil ich die Wirklichkeit so oft als
Traum erlebte und meine Träume als Wirklichkeit. Vertraute
Gerüche nahmen eine neue Intensität an. Farben waren plötzlich
von größerer, bis dahin ungeahnter Leuchtkraft. Selbst Klänge
und Geräusche erhielten eine andere Dimension, es kam mir so
vor, als hätte ich sie bisher nur durch einen Filter
wahrgenommen. Wie schlafwandelnd unternahm ich lange
Spaziergänge, immer ohne Dianne. Ich entdeckte die Welt und
meine Stellung darin neu. Menschen, die ich zuvor nur als
Einzelwesen wahrgenommen hatte, standen plötzlich in
geheimnisvoller Beziehung zueinander, als habe sich ein alles
und jeden miteinander verstrickendes Netz auf sie herabgesenkt.
Anscheinend belanglose Handlungen hatten weit reichende
Konsequenzen – Händel, der neue Mathematiklehrer, erzählte
uns befremdeten Schülern, ein winziger Luftwirbel, ausgelöst
durch den Flügelschlag eines Schmetterlings im fernen Asien,
könne einen wütenden Orkan über Europa zur Folge haben. Ich
sah, ich hörte, ich versuchte zu begreifen, und meine Träume
schrieb ich auf. Mit dunkelblauer Tinte trug ich sie in ein
kleines Heft ein, gewissenhaft und detailliert, als seien sie der
kostbare Stoff, aus dem die Märchen gewoben wurden, die
Tereza noch gestern zwei staunenden Kindern vorgelesen hatte.
»HAB ICH DIR EIGENTLICH jemals gesagt, wie sehr ich
diese beschissene Geige hasse?«
»Ich hab sogar Buch darüber geführt.«
»Wirklich?«
Ich grinse. »Wirklich. Als das erste Heft voll war, hab ich es
weggeworfen.«
Kats Oberkörper ist unsichtbar, verborgen hinter dem
aufgeschlagenen Notenheft, das auf einem wackeligen
Metallständer ruht. Ich sehe ihren gebeugten Kopf in fließenden
Bewegungen nach vorn und dann wieder leicht zurückwippen,
das Gesicht eine Maske der Konzentration, die Augenbrauen
himmelwärts strebende Bögen, während Finger und Bogen wie
schwerelos über die Saiten der Violine tanzen. Die Luft ist ein
Wellenbad perlender, vibrierender Tonfolgen.
»Brauchst du noch lange?«
»Fünf Minuten«, stößt sie zwischen zusammengepressten
Lippen hervor. »Das Geschramme ist im ganzen Haus zu hören,
und meine Mutter stoppt die Zeit, weißt du.«
Ich weiß. Wie üblich hat ihre Mutter mich mit der
Begeisterung empfangen, die man einem Pickel entgegenbringt,
der über Wochen hinweg hartnäckig an immer derselben Stelle
auftaucht. Sobald ich ihr Haus betrete, benimmt sie sich, als sei
der Frost eingekehrt; selbst im Sommer dreht sie dann
demonstrativ die Thermostate an den Heizkörpern auf: pure
Hilflosigkeit angesichts der Sturheit, mit der Kat seit Jahren
meine Besuche durchsetzt.
»Warum nimmst du den Scheiß nicht auf Kassette auf, lässt
das Band laufen und haust mit mir ab?«, sage ich über das
Tönen der Geige hinweg.
»Bin gleich so weit.«
Ich bin kein Musikexperte, doch für meine Ohren klingt Kats
Geigenspiel wunderbar. Die letzten Takte ertönen völlig
entspannt, Körper, Geist und Instrument bilden eine
harmonische Einheit. Ich kann sehen, wie Kats Verbissenheit
einem zufriedenen, fast triumphierenden Lächeln weicht.
Ursprünglich bin ich mit dem festen Vorsatz gekommen, ihr
von meinem bevorstehenden Treffen mit dem Läufer zu
erzählen. Jetzt reicht ihr winziges Lächeln aus, meinen Plan
über den Haufen zu werfen. Dieses Lächeln markiert den Sieg
über das Stück, an dem sie übt. Noten, Modulation, Rhythmus:
Kat hat das alles verinnerlicht, die Partitur gemeistert, sie
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