Andromeda
wiederholte Stone.
Hall sagte: »Vielleicht sollten wir versuchen …«
»Kommt nicht in Frage! Das können wir nicht wagen. Auch nicht ein einziges Mal.«
Kalocin war das vielleicht bestgehütete Geheimnis Amerikas im letzten Jahrzehnt – ein Medikament, das die Firma Jensen Pharmaceuticals im Frühjahr 1965 entwickelt hatte, eine Chemikalie für Versuchszwecke, die unter der Bezeichnung UJ-44759w – oder kurz K-9 – lief. Sie war im Zuge von Routinetests gefunden worden, die man bei Jensen mit allen neuen Verbindungen anstellte.
Jensen machte es ähnlich wie die meisten pharmazeutischen Firmen: Alle neuen Medikamente werden einem Vielseitigkeitstest unterworfen, bei dem man die Verbindungen festgelegter Testserien zur Entdeckung irgendwelcher bedeutsamer biologischer Wirkungen unterwirft. Diese Tests werden an Versuchstieren vorgenommen – an Ratten, Hunden und Affen. Alles in allem waren es vierundzwanzig verschiedene Tests.
Bei dem Präparat K-9 stellte man etwas Sonderbares fest: Es verhinderte Wachstum. Ein Jungtier, dem man das Medikament eingab, erreichte nie die Größe eines voll ausgewachsenen Tiers.
Diese Entdeckung regte zu weiteren Versuchen an, die zu noch aufsehenerregenderen Ergebnissen führten. Man stellte bei Jensen fest, daß K-9 die Metaplasie verhinderte, die Verwandlung einer normalen Körperzelle zu neuer und anomaler Form – die Vorstufe des Krebses. Durch einen unbekannten Mechanismus verhinderte K-9 die Vermehrung des Virus, das eine Myelogene Leukämie hervorruft. Tiere, denen die Droge eingegeben wurde, bekamen diese Krankheit nicht, und bei Tieren, die bereits von der Krankheit befallen waren, bewirkte das Mittel eine deutliche Besserung. Nun war bei Jensen die Begeisterung nicht mehr zu halten. Man erkannte sehr rasch, daß man mit diesem Mittel einen Breitband-Wirkstoff gegen Viren gefunden hatte. Es tötete die Viren von Polio, Tollwut, Leukämie ebenso ab wie die der einfachen Warzen. Seltsamerweise tötete Kalocin aber auch Bakterien. Und Pilze. Und Parasiten.
Irgendwie brachte es Kalocin fertig, sämtliche Organismen zu töten, die auf einer einzelligen oder noch einfacheren Struktur beruhten. Auf Organsysteme – Zellengruppen, die zu größeren Einheiten zusammengefaßt sind – wirkte es nicht ein. In dieser Hinsicht war das Mittel absolut selektiv. Kalocin stellte somit ein universelles Antibiotikum dar. Es tötete alles ab, sogar die weniger wichtigen Keime, die etwa einen harmlosen Schnupfen verursachen. Natürlich kam es auch zu Nebenwirkungen – die normale Darmflora wurde zerstört, so daß mit der Einnahme des Mittels stets ein heftiger Durchfall verbunden war –, doch für eine Heilung von Krebs erschien das als ein tragbarer Preis, den zu zahlen man gern bereit war.
Im Dezember 1965 wurden zunächst noch inoffiziell die zuständigen Regierungsstellen und wichtige Leute des Gesundheitsdienstes mit Kalocin bekanntgemacht. Damals gab es den ersten Widerstand gegen Kalocin. Viele Leute, darunter auch Jeremy Stone, setzten sich für ein Verbot des Mittels ein.
Doch die Argumente, die für ein Verbot sprachen, erschienen rein theoretisch. Die Firma Jensen setzte sich angesichts des erhofften Milliardengeschäfts energisch für einen klinischen Test ein. Schließlich gaben Regierung, Gesundheitsministerium, Arzneimittelüberwachung und andere nach und genehmigten, entgegen den Protesten Stones und anderer Wissenschaftler, die weitere klinische Erprobung. Im Februar 1966 wurde der erste klinische Versuch eingeleitet. Dafür wählte man zwanzig Patienten mit unheilbaren Krebsleiden und zwanzig gesunde Freiwillige aus dem Staatsgefängnis Alabama aus. Alle vierzig Versuchspersonen nahmen einen Monat lang täglich Kalocin ein. Das Ergebnis fiel erwartungsgemäß aus: Die Gesunden bekamen die unangenehmen Nebenwirkungen zu spüren, die aber nicht ernstzunehmen waren. Die Krebskranken zeigten einen auffälligen Rückgang der Symptome, der mit einer Heilung gleichzusetzen war.
Am 1. März 1966 wurde bei allen vierzig Versuchspersonen das Mittel abgesetzt.
Innerhalb von sechs Stunden waren alle tot. Es war genau das eingetreten, was Stone von Anfang an vorausgesagt hatte. Er hatte nämlich darauf hingewiesen, daß die Menschheit im Verlauf einer jahrtausendelangen Bedrohung durch Mikroben allmählich eine sorgsam ausgewogene Immunität gegen die meisten Erreger erworben hat. Auf der Haut, in der Luft, in den Lungen, im Magen und selbst im Blutkreislauf
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