Andular III (Das Erbe der Schicksalsweber) (German Edition)
ebenfalls aus weißem Stein bestand. Die Seiten reichten vom Boden mehrere Meter in die Höhe, während einige Stufen zum eigentlichen, steinernen Sitz des Thrones führten. Und dort, nur wenige Meter von ihm entfernt, saß eine Gestalt. Sie war in eine weiße Robe gehüllt, die ihr bis über die Füße reichte, eine weite Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass Renyan lediglich einen Schatten darunter erkennen konnte. Aus den weiten Ärmeln der Robe lugten zwei Hände hervor, deren dürre Finger regungslos auf den Lehnen des Thrones ruhten und ebenso weiß waren wie dieser.
„Wer bist du?“, fragte Renyan zögernd und neigte seinen Kopf zur Seite, in der Hoffnung, irgendetwas unter der Kapuze zu erspähen, das einem Gesicht ähneln würde.
„Ich bin nicht dein Feind“, antwortete eine sanfte Stimme unter der Kapuze, „doch genauso wenig bin ich dein Freund, Fremder.“
„Dann weißt du also nicht, wer ich bin?“, fragte Renyan und versuchte abermals unter die Kapuze zu blicken. „Vielleicht könntest du ja dein Antlitz auf mich richten, um herauszufinden, mit wem du es zutun hast.“
Für einen kurzen Moment hatte Renyan geglaubt, dass sich die weißen Finger des Unbekannten gekrümmt hatten, ganz so, als ob sie sich in das helle Gestein der Armlehnen graben wollten.
„Du bist derjenige, der gekommen ist, um die Welt ins Chaos zu stürzen“, erwiderte die Stimme, so sanft wie zuvor.
„Ins Chaos zu stürzen?“
„Du bist wegen einem der drei Splitter hier, nicht wahr?“, fragte die Gestalt und für einen kurzen Augenblick glühte ein bläulicher Lichtschein in Brusthöhe unter ihrem Gewand hindurch.
Renyans starrte gebannt auf die Stelle, doch das Leuchten war schon wieder verschwunden. „Warum glaubst du, dass mein Interesse an dem Splitter die Welt ins Chaos stürzen könnte?“
„Weil es der Splitter ist, der diese Welt zusammenhält.“
„Wer auch immer du bist“, erwiderte Renyan, „du scheinst nicht allzu viel über die Splitter zu wissen.“ Er machte eine kurze Pause um die Reaktion seines Gegenübers abzuwarten, doch die Gestalt machte keinerlei Anstalten ihn zu unterbrechen. „Das Fehlen der drei Splitter wird unsere Welt ins Chaos stürzen“, fuhr Renyan fort, „und nur die Wiedervereinigung mit Andulars Träne kann uns noch retten. Du siehst also, ich bin nicht hier um Schaden anzurichten, sondern um ihn zu vermeiden.“
„Das, was du Andulars Träne nennst, existiert nicht.“
„Doch das tut es. Es existiert, tief im Inneren von Andular, weit unter der Meeresoberfläche, dort, wo alles was besteht, zusammengehalten wird.“
„Ich bin es, der alles zusammenhält, nicht das was du glaubst.“
„Und wer bist du? Nenn mir deinen Namen.“
Renyan wartete, doch er erhielt keine Antwort. Erneut herrschte Stille und die Gestalt auf dem Thron schien nun nicht mehr zu sein als eine leblose Statur.
Doch plötzlich, als sei sie wieder zum Leben erwacht, lösten sich die weißen Hände von der Lehne und erhoben sich seitlich in die Luft, bis sie schließlich auf Schulterhöhe der Gestalt verharrten. Und dann, mit einer Stimme, die weder freundlich noch feindlich klang, antwortete sie: „Ich bin das Schicksal.“
Nun war es Renyan, der schwieg. Er hatte einen Namen erwartet, irgendeinen Namen, den er nie zuvor gehört hatte und der vielleicht noch nicht einmal der Wahrheit entsprach. Aber das?
Immer noch schweigend sah er zu der Stelle des Gewandes, an der er kurz zuvor das bläuliche Leuchten gesehen hatte. Dann wandte er sich dem Raben auf seiner Schulter zu und flüsterte: „Wenn du wirklich meine Gedanken lesen kannst, dann weißt du, was zu tun ist, nicht wahr?“
Avakas beugte sich ein Stück weit zu ihm hinab und sah ihm tief in die Augen. Nach einer Weile, in der die Zeit stillzustehen schien, nickte er und stieß sein vertrautes Krächzen aus.
„Wenn das, was du sagst, stimmt“, rief Renyan der Gestalt zu, „dann müsstest du auch mein Schicksal kennen, nicht wahr? Immerhin hast du mich genau hierher an diesen Ort geführt.“
„Ja.“
„Dann weißt du also, was als Nächstes geschehen wird?“
„Das weiß ich.“
„Dann sag es mir und überzeuge mich von dem, was du behauptest.“
„Niemanden wird sein Schicksal mitgeteilt, man erfährt es in dem Moment, in dem es geschieht.“
Renyan hob einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, wartete einen Moment, setzte den anderen Fuß nach und nahm schließlich auch die zweite Stufe. Und plötzlich sah
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