Andular III (Das Erbe der Schicksalsweber) (German Edition)
gewährt werden würde, doch dann begann erneut der Boden zu beben, stärker als zuvor, sodass er rücklings die Stufen hinunter fiel, und Avakas krächzend davonflog. Die Erschütterungen weiteten sich immer mehr aus, einige Stufen brachen auf und auch die Steine in den Fensteröffnungen bewegten sich. Aber sie fielen nicht heraus, sondern hoben sich weiter aneinanderhaftend nach oben, wie ein großes steinernes Lid und da erkannte er, dass es tatsächlich zwei riesige Augen waren und keine Fenster. Jedes Auge hatte eine rot glühende Pupille vor einem hellen, marmornen Augapfel. Und beide waren jetzt direkt auf Renyan gerichtet.
„EINDRINGLING!“, polterte die Stimme, lauter als zuvor. „VERSUCHST IN MEINES MEISTERS GEMACH ZU GELANGEN, DOCH DAS WERDE ICH NICHT ZULASSEN! NUN SPÜRE DEN ZORN DES KOLOSSES!“
Wieder brach der Boden um ihn auf, weite Risse klafften unterhalb der Treppe hervor und rasten im Zickzack über den mit Pflastersteinen besetzten Platz.
Renyan sah ihnen nach und stellte mit Entsetzen fest, dass die Häuser und Mauern der Ruinen nicht versanken, sondern nach oben in die Höhe gerissen wurden. Er aber rutschte jetzt die Stufen nach unten, da sich die gesamte Treppe mit einem kraftvollen Ruck senkrecht nach oben bewegte und er gerade noch einen dicken Efeustrang zu packen bekam, bevor er abstürzte. Um ihn herum sausten Felsbrocken in die Tiefe, die ihn nur haarscharf verfehlten. Das Grollen und der Lärm um ihn herum waren ohrenbetäubend. Ab und zu hörte er in dem ganzen Chaos die tiefe Stimme des Kolosses, doch Renyan konnte seine Worte nicht verstehen.
Er starrte hinunter zu seinen Füßen und sah, dass er sich bereits dreißig Meter über dem Boden befand. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und weichte unter ihm die Erde auf, aus der nun zwei gigantische, schlammsäulenähnliche Beine in die Höhe schossen. Gleich darauf ertönte ein dumpfes Donnern und zwei riesige Arme rissen sich rechts und links von ihm aus dem Gestein los.
Renyan hing immer noch mit beiden Händen an der Treppe, an dem Punkt, der den Hals des Kolosses bildete. Über ihm wehte die dröhnende Stimme hinweg, als er auf einmal den weißen Raben entdeckte, der mit lauten Schreien den Körper des Ungetüms umkreiste.
Daraufhin schoss eine riesige Hand durch die Luft und kurz darauf eine zweite, doch der Rabe war schneller und sauste wie eine lästige Fliege zwischen den Fingern hindurch, drehte dann ab und stürzte hinab in die Tiefe, außerhalb der Reichweite der beiden Arme.
„Versuch es an den Augen!“, brüllte Renyan durch den Regen und zog sich Stück für Stück an dem Strang hinauf. Doch die Kräfte in seinen Armen schwanden und so hielt er kurz inne, als er plötzlich aus dem Augenwinkel eine der beiden Hände auf sich zuschießen sah. Renyan lockerte geistesgegenwärtig seinen Griff und rutschte mehrere Meter den Strang hinunter, wobei ihm die Reibungshitze Tränen in die Augen trieb. Dann schlug die riesige Hand oberhalb von ihm ein, genau auf die linke Brust des Kolosses und Renyan hörte seine vor Wut tobenden Worte:
„ICH WERDE DICH ZERQUETSCHEN, DICH UND DEINEN FLIEGENDEN GEFÄHRTEN!“
Wieder stieß er ein lautes Grollen aus, doch es war ein Aufschrei des Schmerzes, denn Avakas hatte nun seine gleißende Erscheinung angenommen und seine weißglühenden Krallen in eine der riesigen Pupillen geschlagen. Sekunden später stoben rote Funken über Renyans Kopf hinweg, gefolgt von einer pulsierenden Masse, die sich ihren Weg die Stufen hinunter bahnte, wie ein Fluss aus glühender Lava.
Der Koloss blutete, und Avakas setzte zu einem weiteren Stoß an. Renyan hatte keine Zeit den Raben zu bejubeln, er musste jetzt schleunigst wieder nach oben gelangen, denn wenn es dem Raben gelingen würde, auch das zweite Auge zu zerstören, wäre er dem daraus fließenden Lavastrom hilflos ausgeliefert. Mit der Hilfe von Tenyons Amulett konnte er sich nicht aus seiner misslichen Lage befreien, da er beide Hände brauchte, um sich festzuhalten. Mit aller Kraft zog er sich schließlich wieder hinauf, gerade soweit, dass er sich von der untersten Stufe abstoßen konnte, um auf die andere Seite zu schwingen. Nach zwei mühseligen Versuchen gelang es ihm endlich den erforderlichen Schwung aufzubringen und so erreichte er einen dicken Strang auf der anderen Treppenseite. Sekundenbruchteile später schwappte ein weiterer Schwall der feurigen Masse in die Tiefe, begleitet von einem anhaltenden Zischen, da der
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