Anemonen im Wind - Roman
gewachsen war, die Saat der Trauer, die sie Tränen würde ernten lassen. Denn die Existenz des Kindes würde sie stets an die Vergewaltigung erinnern. Und an den Mord an Joe, sollte er nicht überleben.
»Warum hast du Charlie laufen lassen?«, fragte sie Jack eisig. »Warum hast du ihn einfach so gehen lassen, obwohl er bestraft werden müsste für das, was er getan hat.«
Jack schaute zu Aurelia hinüber, und sie nahm seine Hand und hielt sie fest in ihrem Schoß. »Der Junge war krank, Ellie, und ich habe ihm nur ein paar Minuten Vorsprung gegeben, bevor ich die Polizei angerufen habe«, sagte er zögernd. »Es war wahrscheinlich eine falsche Entscheidung, aber es war das Mindeste, was ich unter den Umständen tun konnte.«
Ellie stand auf und blieb mit geballten Fäusten vor ihm stehen, zitternd vor Wut. »Unter welchen Umständen, Jack? Meinst du die Vergewaltigung oder den versuchten Mord? Was war so unwichtig, dass du ihn seiner gerechten Strafe entkommen lässt?«
»Weder das eine noch das andere«, gestand er. »Aber Charlie wusste nicht mehr, was er tat – er hatte kein Gefühl mehr für Recht und Unrecht. Was er im Krieg durchgemacht hat, hat einen Schaden bei ihm hinterlassen – und daran würden Polizei und Gefängnis, Gerichtssaal und Prozess nichts ändern.« Mit gequältem Blick sah er sie an. »Was er dir und Joe angetan hat, ist unverzeihlich, und ihr werdet beide lernen müssen, bis ans Ende eurer Tage damit zu leben. Aber das gilt auch für Charlie. Er war auf dem Weg in die Selbstzerstörung, seit er mit Seamusnach Jarrah zurückgekommen ist. Und wegen dem, was er für Seamus getan hat, glaubte ich ihm mindestens noch zehn Minuten Freiheit schuldig zu sein.«
»Mir blutet das Herz«, zischte Ellie mit kaltem Sarkasmus.
»Er wird nicht weit kommen«, sagte Jack müde. »Er ist ein gebrochener Mann, der nirgends hinkann, und niemanden kümmert, was aus ihm wird. Die zehn Minuten, die ich ihm geschenkt habe, waren eine Illusion. Er wird der Gerechtigkeit nicht entkommen. Es wird vielleicht nicht die Gerechtigkeit sein, an die du jetzt denkst – aber sie wird genügen.«
Ellie funkelte ihn an und begann auf und ab zu gehen. »Ich hoffe, sie fassen ihn«, sagte sie. »Ich hoffe, er kommt für alle Zeit hinter Schloss und Riegel.« Die Stille, die auf diese Erklärung folgte, ließ sie stehen bleiben. Sie schaute in die Runde. »Was verschweigt ihr mir?«, fragte sie. »Was für eine Entschuldigung kann es denn geben?«
Jack stand auf, bohrte die Hände in die Hosentaschen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Der Mond stand hell am Himmel, hin und wieder verschleiert von grauweißen Wolken und den Wedeln der Riesenfarne im Krankenhausgarten. »Charlie ist nach Warratah heimgekehrt, um zu sterben«, flüsterte er schließlich.
Ellie ließ sich in einen Sessel fallen. Sie machte große, ungläubige Augen, aber ihr Ton war kalt und mitleidslos. »Seine Verwundung war schlimm, aber nicht lebensbedrohlich. Er hat nach wenigen Monaten wieder auf dem Pferd gesessen und schon bald darauf in der Schmiede gearbeitet.«
Jack starrte weiter aus dem Fenster. Seine sanfte Stimme erfüllte den Raum. »Charlie und Seamus sind bei El Alamein ins Sperrfeuer geraten. Seamus wurde schwer verwundet, und Charlie brachte sein eigenes Leben in Gefahr, indem er versuchte, ihn ins Feldlazarett zu schaffen.« Er seufzte. »In jener Nacht war Charlie ein Held. Er hat Seamus nicht nur auf dem Rücken überdas Schlachtfeld geschleppt, er hat auch noch versucht, seinen Sergeant zu retten. Der arme Mann wurde zerfetzt, aber Charlie glaubte eine echte Chance zu haben, wenigstens Seamus ins Sanitätszelt zu schaffen. Sie waren in Sichtweite der dunkelgrünen Leinwand, als die Kugel eines Scharfschützen Charlie die Seite zerriss. Eine zweite streifte seine Schläfe. Charlie spürte keinen Schmerz. Er merkte kaum, dass er in seiner Entschlossenheit, Seamus in Sicherheit zu bringen, selbst getroffen worden war.«
Jack schwieg eine ganze Weile. »Seamus war tot. Die Kugel des Scharfschützen hatte ihr Ziel gefunden; sie war durch seinen Kopf gefahren und hatte Charlie getroffen. Charlies äußere Wunden würden irgendwann heilen, aber die Ärzte konnten den winzigen Schrapnellsplitter, der sich tief in sein Hirn gebohrt hatte, nicht entfernen. Es war eine Zeitbombe. Der Splitter konnte wandern und augenblicklich den Tod herbeiführen. Er richtete gleich zweifach Schaden an«, fuhr er leise fort. »Denn der Splitter
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