Anemonen im Wind - Roman
sie sich noch einmal um. »Leb wohl, Joe«, sagte sie unter Tränen. »Hör weiter unser Lied, und denke fest daran, dass ich dich liebe und dass ich auf dich gewartet habe – auch wenn es anders aussieht.«
NEUNZEHN
C laire hatte nicht darauf geachtet, wohin sie fuhr. Ihre Gedanken waren bei dem, was sie in dieser langen, bitteren Nacht erfahren hatte, und bei den Konsequenzen, die es für sie und ihre Familie haben würde. Aber als sie die ersten Gebäude von Warratah erblickte, war sie eigentlich nicht überrascht. Es war ihr Zuhause, der einzige Ort, an dem sie Trost finden könnte, ihre einzige natürliche Zuflucht.
Als sie jetzt das kleine Holzhaus durchstreifte, spürte sie den Geist der Menschen, die hier gelebt hatten; sie hörte ihre Stimmen und erinnerte sich an die Liebe und die Geborgenheit, die sie hier gefunden hatte. Sie strich mit den Fingern über abgenutzte Möbel, nahm Fotos und Briefe, Lieblingsbücher und Ziergegenstände in die Hand, und die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, ihren Platz in der Familie wieder in Besitz zu nehmen: dieses Zuhause. Denn tief im Innern war es ihre größte Angst gewesen, dass sie nicht hierher gehörte. Dass sie nicht eine von ihnen war. Eine Waise, aufgenommen von Fremden, die ihr einen Namen und eine Identität gegeben hatten, auf die sie kein Anrecht besaß.
Sie ließ sich in der Sofaecke nieder, zog die Füße unter sich und schlang die Arme um ein dickes Kissen; das Haar fiel ihr ins Gesicht und sperrte die Welt und den Sonnenschein aus. Die Wahrheit war grausamer gewesen, als sie je hatte vermuten können. Doch um wie viel qualvoller hatte es für Mum sein müssen,eine so schreckliche Geschichte noch einmal zu erzählen? Sie atmete tief und bebend ein und schloss die Augen. Der Traum, den sie neulich gehabt hatte, war Wirklichkeit geworden. Dies war ihre Schlacht, die sie nach der Stille zu schlagen hatte – die Dornenbarriere, die sie überwinden musste, bevor sie den Mut fände, zu verzeihen und wieder ins Licht zu treten.
Eine tiefe Ruhe überkam sie, als sie so in der Stille saß. Eine Ruhe, die ihr Frieden brachte und das Wissen, dass sie stark genug war, um zu akzeptieren, was das Schicksal ihr aufgetischt hatte. Sie hatte bis jetzt ein glückliches Leben geführt. Sie wurde geliebt, war willkommen – und alle dunklen Geheimnisse waren ans Licht gebracht worden. Es gab keine Gespenster mehr, nichts, was ihren Weg überschattete und sie zwang, sich immer wieder umzuschauen.
Das leise Klopfen an der Fliegentür erschreckte sie nicht, und als sie sah, wer da stand, erkannte sie, dass sie froh war. »Tag, Matt. Was machst du hier?«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dass es zu Berge stand. »Du hast mich zum Essen eingeladen.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Aber ich schätze, du hast es vergessen.« Seine Augen hatten ihren Glanz verloren, und er wurde rot und drehte seinen Hut in den Händen.
Claire zog ihn herein. »Tut mir Leid, Matt. Du erwischst mich ganz unvorbereitet. Ich weiß nicht mal, was im Kühlschrank ist.«
Er schaute sie besorgt an. »Was ist los, Claire? Du siehst blass aus.«
Sie versuchte ihre Sorgen mit einem Lachen beiseite zu wischen, aber sie wusste, dass sie ihn nicht überzeugte. »Ein bisschen Unruhe in der Familie«, sagte sie mit gezwungener Munterkeit. »Keine Sorge!«
Er legte ihr einen Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie ihn widerstrebend anschaute. »Ich dachte, du vertraust mir«, sagte er liebevoll und sanft. »Hat dich jemand gekränkt? Sprich mit mir, Darling. Sag mir, warum du so traurig aussiehst.«
Claire ließ sich auf die weiche Couch sinken und zog die Knie an die Brust. Er setzte sich neben sie, und sie begann zu erzählen, und als die Worte zu fließen anfingen, spürte sie, wie die Anspannung der vergangenen Nacht sich löste, und sie wusste, dass die Geister der Vergangenheit zusehends verblichen.
Matt schwieg, bis sie zu Ende erzählt hatte. Dann schloss er sie ohne ein Wort in die Arme und drückte sie an sich. Claire konnte seinen Herzschlag hören. Spürte die Wärme und die Kraft, die von ihm ausgingen – und sie wusste, dass er verstand. Wusste, dass es nicht darauf ankam, woher sie kam oder was sie war. Denn dieser wunderbare Mann liebte sie.
Die Sonne ging unter, als sie sich schließlich voneinander lösten. »Ich muss zurück nach Jarrah. Mum und die andern werden sich Sorgen machen; ich muss ihnen sagen, dass alles okay ist.«
»Ruf sie doch an«,
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