Angela Merkel
im Aufschwung sein. In den schlechtenZeiten gibt es eine gewisse Bereitschaft, den Gürtel enger zu schnallen. Im Aufschwung dagegen achtet jeder darauf, ob er auch Teil der guten Nachrichten ist. Es prasseln die Jubelmeldungen auf das Land, und der Bürger fragt sich, ob er selbst so viel Grund zum Jubeln hat wie andere. Und 2007 waren die Zeitungen voller Meldungen, wie sich einige Konzernlenker mit großzügigen Gehältern und Abfindungen bedacht hatten. Zur Symbolfigur dafür wurde Jürgen E. Schrempp, der Daimler-Benz mit dem amerikanischen Autobauer Chrysler vereint hatte und dabei sehr viel Geld verbrannte, ohne dass die beiden Unternehmen zusammenwuchsen. Die ungleichen Partner mussten sich wieder trennen. Trotz dieses Desasters verdiente Schrempp mit Aktienoptionen 50 Millionen Euro. So konnte der Eindruck aufkommen, dass sich eine Managerkaste völlig von der allgemeinen Entwicklung entkoppelt hatte. Sie sichern sich mit Verträgen, die sie von ihren Anwälten aushandeln lassen, gegen alle Wechselfälle ihres Berufslebens ab und gewinnen so eine totale Sicherheit.
Für alle anderen ist die Unsicherheit gewachsen. So keimte selbst bei den Gewinnern des Aufschwungs der Verdacht, in Wahrheit Verlierer zu sein. Viele der neuen Jobs sind im Bereich Zeit- und Leiharbeit entstanden. Dies sind zum großen Teil nicht die guten alten deutschen Jobs mit 14 schönen Monatsgehältern, 30 Tagen Urlaub und einer faktischen Unkündbarkeit nach ein paar Jahren. Es sind Jobs, die einen nicht von dem Gefühl befreien, in prekären Verhältnissen zu leben. Die den Amerikanernvertraute hohe Flexibilität wird nun auch den Deutschen abverlangt. Das Wortpaar Stellung und unkündbar zieht sich immer weiter aus dem deutschen Alltag zurück. Und nach Vertragsende oder einer Entlassung wartet eben nicht mehr bis zu drei Jahre Arbeitslosengeld, also ein leidlich gutes Auskommen. Die Jüngeren stürzen nach einem Jahr in die Welt von Hartz IV. Auch das nimmt das Gefühl von Sicherheit. Das heißt nicht, dass die Reformen falsch waren. Tatsächlich hatte es eine allzu komfortable Absicherung gegeben, mit einer zu hohen Belastung durch Sozialbeiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es war das Richtige passiert, aber es ging eben nicht spurlos am Gemüt der Deutschen vorbei. 2007 wurde zu dem Jahr, in dem die psychologischen Folgen von Schröders Agenda 2010 durchschlugen. Die Reformen erreichten das Lebensgefühl, eine nervöse Gesellschaft bildete sich heraus.
Deutschland spürte zudem die Folgen der internationalen Vernetzung wie noch in keinem anderen Jahr. Mitte 2007 erfuhren die Verbraucher, dass die Milch teurer werden kann, weil Chinas Milchdurst gewachsen ist. Die Brot- und Milchpreise stiegen ebenfalls, der Ölpreis nahm Kurs auf die 100 Dollar pro Barrel. 2008 stieg er bis auf 147 Dollar, der Liter Benzin kostete im Juli 2008 1,60 Euro. Die Deutschen spürten, dass ein jeder Weltbürger ist, nicht nur durch Gesinnung wie früher, sondern durch bloße Existenz. Und Weltbürger heißt neuerdings, in vielfältiger Konkurrenz zu den Bürgern anderer Staaten zu stehen: Konkurrenz um Rohstoffe, um Arbeitsplätze,um Klimaschädigungsrechte, um Patentrechte. Keiner weiß, wie Deutschland gegenüber aufstrebenden Nationen wie China oder Indien abschneiden wird. Die beeindrucken durch rasantes Wachstum, neun, zehn, elf Prozent, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau. Es gibt also durchaus Gründe, besorgt zu sein, und im Besorgtsein sind die Deutschen nun einmal besonders gut.
So hatte es Merkel mit einem Volk zu tun, das sich gar nicht zukunftsfreudig zeigte, eher reformmüde, und das Schluss machen wollte mit den Ungerechtigkeiten. Dazu gehört, dass die Schere zwischen den Einkommen aus Arbeitnehmertätigkeit und den Einkommen aus Vermögen und Selbständigkeit in den vergangenen Jahren weiter auseinandergegangen ist. In Deutschland wachsen Unter- und Oberschicht, die Mittelschicht schrumpft. Und wer einmal unten ist, der kommt nicht mehr nach oben. Das hat zum Beispiel die Pisa-Studie gezeigt. Kinder armer Eltern werden in Deutschland höchstwahrscheinlich keine gute Ausbildung machen, damit nicht an gute Jobs kommen und nicht die Unterschicht verlassen können. Armut wird vererbbar. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Aus all dem gewannen die meisten Politiker den Eindruck: Das Volk will keine weiteren Reformen, es will eher alte Sicherheiten zurück. Und dieser Eindruck traf auf eine Bundeskanzlerin, die
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