Angela Merkel
einmal angetreten war, den Sozialstaat radikal umzubauen.
Das Bild von den Deutschen, die Angela Merkel regiert hat, ist nicht vollständig ohne Oskar Lafontaine. Denn dergab der Unzufriedenheit eine Stimme. Oder er schürte die Unzufriedenheit, der er dann eine Stimme geben konnte. Das ist in einer Mediendemokratie meist nicht genau zu unterscheiden. Jedenfalls trat Oskar Lafontaine, der ehemalige Parteivorsitzende der S PD, der ehemalige Finanzminister von Gerhard Schröder, der komplett gescheiterte Politiker, wieder auf die politische Bühne, und das mit großer Wucht.
Das entscheidende Datum für seinen Aufstieg war der 16. Juni 2007, als sich die ostdeutsch geprägte Linkspartei, eine Nachfolgerin der S ED, mit der mehrheitlich westdeutschen WASG vereinigte. Die WASG ist eine unmittelbare Folge der Agenda 2010, ein Sammelbecken jener westdeutschen Linken, die Schröders Reformkurs unerträglich fanden, vor allem Gewerkschafter, die der SPD frustriert den Rücken gekehrt hatten. Die neue Partei gab sich den anmaßenden Namen »Die Linke«.
Beide Parteien hatten allein keine größere Bedeutung, die WASG galt als chancenlose Splittergruppe, die Linkspartei, die auch schon mal PDS hieß, galt als Relikt der DDR, das mit verblassender Erinnerung an den dahingestorbenen Staat verschwinden würde. Doch durch die Fusion entstand eine gesamtdeutsche Partei, die aus dem Osten Mitgliedermasse und Parteiapparat mitbrachte und aus dem Westen Oskar Lafontaine, der sofort mit demagogischer Kraft das linke Spielfeld besetzte. Umfragen trauten der neuen Partei auf Anhieb ein Potential von bis zu 14 Prozent zu. Plötzlich gab es eine fünfte Kraft im deutschen Parteiensystem, eine fünfte Kraft mit Zukunft.Und diese fünfte Kraft hat Angela Merkels Kanzlerschaft in den ersten zweieinhalb Jahren geprägt wie nichts anderes. Auch wenn es nicht so aussah, aber weite Teile ihrer ersten Legislaturperiode waren ein Duell mit Lafontaine. Sie hat ihn öffentlich ignoriert, aber sie hat intern erzählt, wie ernst sie ihn nimmt. Seine linken Flötereien könnten auch einen Teil der Wählerschaft von CDU und CSU ansprechen. Zudem hat Lafontaine ihren Koalitionspartner, die S PD, in den Wahnsinn getrieben.
Die Sozialdemokraten erlebten zum dritten Mal, dass sich aus ihrem Fleische eine neue Partei bildet, sobald sie regieren oder einer Regierung nahekommen. Im Jahr 1917 spaltete sich die USDP ab, weil die SPD wegen des Krieges einen Burgfrieden mit der kaiserlichen Regierung geschlossen hatte. 1980 gründeten sich die Grünen, weil die SPD unter Helmut Schmidts pragmatischer Kanzlerschaft ökologische und pazifistische Bewegungen in der Gesellschaft nicht aufsaugen konnte. 2007 gründete sich Die Linke, weil Gerhard Schröders Reformkurs einen Teil der westdeutschen Linken heimatlos gemacht hat. Die Sozialdemokraten stürzten diese Schismen jeweils in ein Gefühlschaos. Da ist einerseits der Zorn gegenüber den Abtrünnigen, der Vorwurf des Verrats, des Sich-davon-Machens in schwierigen Zeiten, Zeiten der Verantwortung für das große Ganze. Da ist aber auch das Gefühl, dass die Abtrünnigen in Wahrheit die echte sozialdemokratische Politik machen, sich pures Linkssein trauen, kompromisslos, volksnah. Das fördert die Sehnsucht nach Anpassung, nach Zusammenarbeit, letzten Endes nach Fusion.
In dieser Zerrissenheit hat sich die SPD chaotisiert. Lafontaine schürte das Chaos, indem er sich konsequent als besserer Sozialdemokrat gerierte. Er hängte sich ein Bild von Willy Brandt in sein Büro, und das sagte nichts anderes als: Seht her, hier sitzt der wahre Nachfolger des größten Sozialdemokraten der Bundesrepublik. Die SPD sah zunächst hilflos zu, wie Lafontaine täglich neue Sicherheitsversprechen abgab, die den Staat in den Ruin treiben würden, müssten sie bezahlt werden. Aber Oppositionsprogramme müssen nicht bezahlt werden, sie sind Phantasieprodukte. Die Sozialdemokraten konnten nicht gleichermaßen hemmungslos mit eigenen Phantasien antworten, weil sie Regierungspartei sind. Aber sie konnten das auch nicht so stehenlassen. Sie mussten eine Antwort auf Lafontaine finden. Sie fanden diese Antwort, indem sie sich selbst ein Stück lafontainisierten. Sie wanderten nach links, sie forderten von der Bundeskanzlerin eine Politik, die auf die Stimmung in der Bevölkerung einging.
Also hatte die Angela Merkel von Leipzig 2003 drei Gegner, die aufeinander Bezug nahmen: die SPD, Oskar Lafontaine und eine angenommene Stimmung in der
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