Angela Merkel
Bevölkerung. Dazu kamen Teile ihrer Partei, die mit Leipzig nicht einverstanden waren. Das Ziel dieses nicht ausgesprochenen Bündnisses war, der Agenda 2010 Härten zu nehmen, anders gesagt: Man wollte Angela Merkel dazu bringen, die Uhr vor das Jahr 2003 zurückzudrehen, es in Teilen auszulöschen.
Im Jahr 2005 hätte ich gedacht, dass das unmöglichsei mit ihr. Angela Merkel wollte die Agenda fortsetzen, wollte die Reformen, die Schröder versäumt hatte, nachholen. Es gab noch genug zu tun, der Sozialstaat war noch nicht so krisenfest, wie er sein musste. Die Systeme von Rente, Pflege und Gesundheit mussten noch in Ordnung gebracht werden. Die Zeiten dafür waren eigentlich günstig. Der Aufschwung schaffte Spielräume für neue Reformen. Zwar gab es das Gefühl von Ungerechtigkeit in der Bevölkerung, aber es wäre Aufgabe der Politik gewesen, den Leuten zu vermitteln, dass die Agenda 2010 erfolgreich war, dass sie etwas gebracht hat für die Arbeitslosen. Meine Hoffnung war auch, dass es eine andere Reformendebatte geben könne, ohne die neoliberalen Wortexzesse, die 2003 das Klima vergiftet hatten.
Und tatsächlich gab es bald die erste Reform, allerdings weitgehend ohne Debatte. Arbeitsminister Franz Müntefering setzte überfallartig das Rentenalter auf 67 Jahre hinauf. Die SPD war zu verblüfft, um das verhindern zu können. Lafontaine spielte noch nicht die große Rolle, die Deutschen waren noch verliebt in ihre Kanzlerin auf Auslandstour. Es war ein rasanter Start, aber es war fast auch schon das Ende. Eine so klare, so durchgreifende Reform ist der Großen Koalition nicht mehr geglückt. Es folgte der Kompromiss zum Gesundheitsfonds, ein Ungetüm, das niemand durchschauen kann und dessen Nutzen höchst zweifelhaft ist. Merkel hat es persönlich mitgestaltet, als oberste Ingenieurin für die kleinsten Schrauben. Das hat es nicht besser gemacht. Es sah in dieser Zeit so aus, als würde sie ihre Aufgaben als Bundeskanzlerinverkennen. Sie beeindruckte mit der Kenntnis von Zahlen und Steuerungswirkungen, aber nicht mit Richtlinien. Das Kanzlerhafte, das sie im Ausland so gut präsentieren konnte, schien ihr im Inneren verlorenzugehen.
Dann gab es ein neues Problem. Im Mai 2006 war Kurt Beck Vorsitzender der SPD geworden. Er geriet schnell in Schwierigkeiten, weil er sich nicht besonders geschickt verhielt, und er hatte einen starken Konkurrenten, der sich aufführte wie ein heimlicher Parteivorsitzender, obwohl er als Parteivorsitzender gescheitert war: Franz Müntefering, Arbeitsminister und Vizekanzler. Müntefering hatte sich vom Parteisoldaten zum Großkoalitionär verwandelt. Er hatte 2003 eingesehen, dass Reformen nötig sind, und er hatte sich vorgenommen, die versäumten Reformen mit Angela Merkel nachzuholen, über Parteiinteressen hinweg. Zunächst arbeitete dieses Duo eng zusammen, Merkel äußerte sich angetan über Müntefering, Müntefering sagte über das Verhältnis zu Merkel: »Korrekt im Umgang miteinander, ein Stück Sympathie darin, sachlich in jedweder Weise, nicht kumpelhaft, formale Distanz – ein Verhältnis, wie man es auch in einer guten Firma hat.« Für einen wie Müntefering, der mal geschwiegen hat, als ihm sein Kanzler Schröder einen Freundschaftsantrag gemacht hatte, ist das fast eine Liebeserklärung.
Die Rente mit 67 hatten Müntefering und Merkel gemeinsam durchgezogen, zum Verdruss von großen Teilender SPD, auch von Kurt Beck. Er und Müntefering waren sich in vielen Punkten uneins, ihr Zerwürfnis ging so weit, dass die Machtfrage im Raum stand. Beck hat das verstanden, und er hat sie beantwortet. Seine Waffe wurde das Arbeitslosengeld I. Die Agenda 2010 hat den Bezug dieser Leistung, von der man halbwegs anständig leben kann, auf ein Jahr gekürzt, für ältere Arbeitnehmer auf anderthalb Jahre. Danach kommt das karge Leben mit Hartz IV. Aber die Maßnahme hat gewirkt. Sie hat dafür gesorgt, dass überproportional viele ältere Arbeitnehmer eingestellt wurden.
Beck schlägt vor, den Bezug für ältere Arbeitnehmer auf zwei Jahre zu verlängern, und stellt sich damit offen gegen Müntefering, der an der Agenda 2010 festhalten will. Es ist eine geschickte Attacke des Mannes, der sich später, nach seinem Rücktritt, darüber beklagen wird, dass in Berlin die Sitten eines Wolfsrudels herrschten. Er nimmt die Stimmung in der Bevölkerung auf, er nimmt die Stimmung in der SPD auf, die sich gegen Oskar Lafontaine profilieren will, und so gerüstet kann er gar
Weitere Kostenlose Bücher