Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
überhaupt nur aufzustehen, du bist so gut wie ausgeblutet, und ohne mich wärst du sowieso schon tot. Sag mir, wo sie sie hingebracht haben.«
»Sie ist tot«, sagt er mit einer absoluten Endgültigkeit. Dann schließt er die Augen, wie um wieder zu schlafen.
Ich könnte schwören, mein Herz hört für eine Minute zu schlagen auf. Meine Finger fühlen sich an, als würden sie gefrieren. Mit einem schmerzhaften Ruck kommt der Atem zurück.
»Du lügst. Du lügst doch.«
Er antwortet nicht. Ich nehme die alte Decke, die ich auf dem Schreibtisch abgelegt habe.
»Sieh mich an!« Ich falte die Decke auseinander, sodass die Flügel herauspurzeln. In der Decke waren sie auf einen Bruchteil ihrer eigentlichen Spannbreite zusammenge schrumpft, und die Federn schienen fast ganz verschwunden zu sein. Als sie jetzt herausfallen, öffnen sie sich teilweise, und die feinen Daunen richten sich auf, wie um sich nach einem langen Schlummer zu strecken.
Ich kann mir vorstellen, dass das Grauen in seinen Augen ungefähr dem eines Menschen entspricht, der seine amputierten Beine aus einer mottenzerfressenen Decke her auskullern sieht. Ich weiß, ich bin unverzeihlich grausam, aber den Luxus, nett zu sein, kann ich mir nicht leisten. Nicht, wenn ich Paige lebend wiedersehen will.
»Na, weißt du, was das ist?« Ich erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. Sie ist kalt und hart. Die Stimme eines Söldners. Eines Peinigers.
Die Flügel haben all ihren Glanz verloren. Hier und da sind noch ein paar schillernde Stellen zu erkennen, doch die Federn sind geknickt und stehen seltsam in alle Richtungen ab. Abgesehen davon sind sie über und über mit geronnenem Blut bespritzt, was sie verkleben lässt.
»Du kannst deine Flügel wiederhaben, wenn du mir hilfst, meine Schwester zu finden. Ich habe sie für dich aufgehoben.«
»Danke«, stößt er krächzend hervor, während er seine Schwingen mustert. »Die werden toll an meiner Wand aussehen.« Außer Bitterkeit schwingt noch etwas anderes in seiner Stimme mit. Ein wenig Hoffnung vielleicht.
»Bevor du und deine Kumpel unsere Welt zerstört habt, gab es Ärzte, die einen Finger oder eine Hand wieder annähen konnten, wenn sie einem blöderweise abgetrennt wurden.« Ich erwähne nicht, dass man Körperteile für gewöhnlich kühlen oder innerhalb weniger Stunden wieder annähen muss. Er wird wahrscheinlich sowieso sterben, also ist das nicht wichtig.
Sein angespannter Kiefermuskel zeichnet sich noch immer deutlich auf seinem kalten Gesicht ab, doch der Ausdruck in seinen Augen wird eine Spur wärmer, als könne er nicht anders, als über seine Optionen nachzudenken.
»Ich habe sie dir nicht abgeschlagen«, sage ich. »Aber ich kann dir helfen, sie zurückzubekommen. Wenn du mir hilfst, meine Schwester zu finden.«
Statt einer Antwort schließt er die Augen und schläft ein.
Er atmet tief und langsam, genau wie ein Mensch, der fest schlummert. Doch seine Verletzungen heilen nicht wie die eines Menschen. Als ich ihn hier reingeschleift habe, war sein Gesicht schwarz-blau geschwollen. Jetzt, nach fast zwei Tagen Schlaf, sieht es wieder normal aus. Die Ausbuchtung von seinen gebrochenen Rippen ist verschwunden. Die Blutergüsse um die Augen und an den Wangen sind weg, die vielen Schnittwunden und Male an Händen, Schultern und auf der Brust komplett verheilt.
Nur die Stellen, wo vorher seine Flügel waren, heilen nicht ab. Durch die Verbände kann ich nicht viel erkennen, aber da die Wunden immer noch bluten, werden sie wahr scheinlich nicht viel besser aussehen als noch vor zwei Tagen.
Ich halte inne und denke über meine Alternativen nach. Bestechen kann ich ihn nicht, da müsste ich es wohl eher aus ihm herausfoltern. Ich bin fest entschlossen, alles zu tun, was meine Familie am Leben erhält, aber ich habe keine Ahnung, ob ich so weit gehen kann.
Doch das weiß er nicht.
Jetzt, da er einmal aufgewacht ist, sollte ich wohl besser sicherstellen, dass ich ihn unter Kontrolle halten kann. Ich laufe nach draußen, um zu sehen, ob ich etwas finde, womit ich ihn fixieren kann.
7
Als ich aus dem Eckbüro komme, merke ich, dass jemand an dem Toten im Foyer rumgefuhrwerkt hat. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, scheint er alle Würde verloren zu haben.
Jemand hat ihn so drapiert, dass er eine Hand in die Hüfte gestützt hat und mit der anderen in seine langen, zotteligen Haare fasst, die ihm stachelig vom Kopf abstehen, als wäre er von einem Stromschlag getötet worden. Seine
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