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Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Ee
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Lippen sind großzügig mit Lippenstift beschmiert, die Augen weit aufgerissen. Schwarze Filzstiftlinien gehen wie Sonnenstrahlen von seinen Augenhöhlen ab. In seiner Brust steckt ein Messer, das vor einer Stunde noch nicht da war und wie ein Fahnenmast in die Höhe ragt. Aus irgendeinem Grund, den wohl nur Verrückte verstehen, hat jemand auf die Leiche eingestochen.
    Meine Mutter hat mich gefunden.
    Moms Zustand ist nicht so beständig, wie man vielleicht meinen könnte. Ihr Wahnsinn kommt und geht ohne vorhersehbares Muster und ohne jeden Auslöser. Dass sie keine Medikamente mehr nimmt, ist natürlich nicht gerade hilfreich. Wenn sie einen guten Tag hat, merken die Leute gar nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Dann fühle ich mich wegen meiner Wut und meiner Frustration so schuldig, dass es mich fast auffrisst. Aber wenn meine Mutter einen schlechten Tag hat, kann es schon mal passieren, dass ich aus meinem Zimmer komme und einen Toten auf dem Boden vorfinde, der zu einem Spielzeug mutiert ist.
    Fairerweise muss ich sagen, dass sie vorher noch nie mit Leichen herumgespielt hat. Nicht dass ich wüsste zumindest. Schon bevor die Welt in die Binsen gegangen ist, hat sie sich immer am Rand eines Abgrunds bewegt, und oft ist sie noch ein paar Schritte weiter gegangen. Doch die Tatsache, dass mein Vater uns verlassen hat, und die Angriffe danach haben alles noch viel schlimmer gemacht. Welcher rationale Teil auch immer es war, der sie davon abgehalten hat, in die Dunkelheit abzutauchen – er hat sich in Luft aufgelöst.
    Ich denke darüber nach, die Leiche zu begraben, doch irgendwo in einem kalten, berechnenden Winkel meines Verstandes weiß ich, dass dies die beste Abschreckung ist, die ich mir wünschen könnte. Jeder normale Mensch, der durch die Glastür hereinlugt, würde sich sofort weit, weit weg flüchten. Im Moment spielen wir ein immerwährendes Spiel, ein Spiel mit dem Namen: Ich bin verrückter und furchterregender als du . Und in diesem Spiel ist Mom unsere Geheimwaffe.
    Vorsichtig gehe ich zu den Toiletten, wo die Dusche aufgedreht ist. Mom summt eine schwermütige Melodie vor sich hin, die sie, glaube ich, erfunden hat und die sie uns früher, wenn sie halbwegs klar im Kopf war, immer vorgesungen hat. Eine wortlose Melodie, traurig und nostalgisch zugleich. Wahrscheinlich gab es mal Worte dazu, denn ich sehe einen Sonnenuntergang vor meinem inneren Auge – einen Sonnenuntergang über dem Ozean, ein altehrwürdiges Schloss und eine wunderschöne Prinzessin, die sich von den Schlossmauern in die wogende Brandung stürzt.
    Ich stehe vor der Toilettentür und lausche. In meiner Erinnerung assoziiere ich das Lied mit den Momenten, in denen Mom aus einer besonders irren Phase wieder zu uns zurückkehrt ist. Für gewöhnlich hat sie es uns vorgesummt, wenn sie all die Prellungen und Schnittwunden verarztet hat, die sie uns zugefügt hatte.
    In diesen Phasen war sie immer sehr sanft, und es tat ihr aufrichtig leid. Ich glaube, es war so etwas wie eine Entschuldigung. Natürlich genügte das nicht, aber vielleicht war es ihre Art, wieder nach dem Licht zu streben, uns wissen zu lassen, dass sie aus der Dunkelheit in eine Grauzone getaucht war.
    Nach Paiges »Unfall« hat sie die Melodie ununterbrochen gesummt. Wir haben nie herausgefunden, was damals wirklich passiert ist. Nur Mom und Paige waren im Haus, nur sie beide kennen die Wahrheit. Meine Mutter hat danach wochenlang geweint und sich Vorwürfe gemacht. Ich habe ihr ebenfalls Vorwürfe gemacht. Wie auch nicht?
    »Mom?«, rufe ich durch die geschlossene Toilettentür.
    »Penryn!«, antwortet sie über das Plätschern der Dusche hinweg.
    »Bist du okay?«
    »Ja, und du? Hast du Paige gesehen? Ich kann sie nirgendwo finden.«
    »Wir finden sie, in Ordnung? Wie bist du hierhergekommen?«
    »Oh, irgendwie halt.« Meine Mutter lügt normalerweise nicht, aber sie hat die Angewohnheit, ziemlich vage und ausweichend zu antworten.
    »Wie hast du mich gefunden, Mom?«
    Das Wasser rauscht für eine Weile ungehindert weiter, ehe sie antwortet: »Ein Dämon hat es mir gesagt.« Scham und Widerstreben liegen in ihrer Stimme. So wie die Welt gerade ist, wäre ich fast geneigt, ihr zu glauben, doch leider sieht oder hört ihre persönlichen Dämonen niemand außer ihr.
    »Das war nett von ihm.« Für gewöhnlich wird den Dämonen alles Schlechte oder Abgedrehte in die Schuhe geschoben, was meine Mutter angestellt hat. Selten kassieren sie mal die Lorbeeren für

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