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Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Ee
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Mom? Hatte sie Zeit, sich zu verstecken?
    Ich betrachte das Fenster. Dürfte nicht leicht werden, es kaputt zu machen, aber wenn die Straßengang das schafft, schaffe ich das auch. In jedem Fall ist es so breit, dass ich hindurchschlüpfen kann. Wir befinden uns im Erdgeschoss – der guten Macht sei Dank, die offenbar noch immer auf dieser Welt existiert, was auch immer aus ihr geworden sein mag.
    Mit den Händen drücke ich gegen die Scheibe, um ihre Stabilität auszutesten. Es wird einige Zeit brauchen, sie kaputt zu machen. Außerdem wird der Lärm durchs ganze Gebäude hallen, wenn ich immer wieder dagegen schlage.
    Draußen rufen sich die Gangmitglieder etwas zu. Sie johlen, schreien und schlagen alles kurz und klein. Sie veranstalten eine Show, um sicherzugehen, dass wir so richtig verängstigt sind, wenn sie uns finden. So wie es sich anhört, sind sie jetzt mindestens zu sechst.
    Wieder werfe ich dem Engel einen Blick zu. Er lauscht angestrengt und rechnet sich wahrscheinlich gerade seine Chancen aus. Verwundet und an einen Rollwagen gekettet dürfte die Wahrscheinlichkeit, dass er einer Straßengang entkommt, gegen null gehen.
    Andererseits: Wenn der Lärm des zerberstenden Fensters die Gang zu uns lockt, wird sie vollauf mit dem Engel beschäftigt sein, wenn sie ihn sieht. Er ist die sprichwörtliche Goldmine, und sie sind die glücklichen Goldgräber. Mom und ich werden sicher in dem Tumult fliehen können. Aber was dann? Wenn der Engel erst mal tot ist, kann er mir nicht mehr sagen, wo ich Paige finde.
    Vielleicht wird die Gang auch einfach noch ein paar Gegenstände kaputt machen, das Essen aus der Küche klauen und dann abhauen.
    Der Schrei einer Frau dringt durch die Nacht.
    Meine Mutter.
    Männliche Stimmen rufen und frotzeln. Sie klingen, als würden sie sich köstlich amüsieren, so wie ein Rudel Hunde, das eine Katze in die Ecke gedrängt hat.
    Ich greife nach einem Stuhl und schmettere ihn gegen das Fenster. Ein donnerndes Krachen ertönt, die Scheibe biegt sich, zerbricht jedoch nicht. Ich will die Gangmitglieder so gut es geht ablenken und hoffe, der Lärm lässt sie meine Mutter vergessen. Wieder stoße ich den Stuhl gegen die Scheibe, und wieder. Verzweifelt versuche ich, das Fenster einzuschlagen.
    Sie schreit erneut. Rufe dringen zu mir herüber.
    Der Engel packt den Rollwagen und donnert ihn gegen das Fenster. Die Scheibe explodiert in alle Richtungen. Ich ducke mich, gleichzeitig registriere ich in einem entlegenen Winkel meines Verstands, dass mich der Engel mit seinem Körper vor den Glasscherben schützt, damit sie mich nicht treffen.
    Mit voller Wucht schlägt irgendetwas gegen die verriegelte Bürotür, doch die Schlösser geben nicht nach.
    Ich nehme den Wagen, hieve ihn zum Fensterbrett hoch und versuche, dem Engel ins Freie zu helfen.
    In dem Moment fliegt die Tür auf und prallt von der Wand ab. Die Scharniere brechen.
    Der Engel wirft mir einen schnellen, durchdringenden Blick zu und sagt: »Lauf weg.«
    Ich springe aus dem Fenster.
    Im Laufen komme ich auf dem Boden auf. Auf der Suche nach dem Hintereingang oder einem kaputten Fenster, durch das ich wieder hereinkönnte, hetze ich um das Gebäude herum. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, was mit meiner Mutter, dem Engel und mit Paige passiert sein könnte. Ich verspüre das beinahe unwiderstehliche Verlangen, mich unter einem Busch zu verstecken und ganz klein zusammenzurollen. Meine Augen, meine Ohren, meinen Verstand zu verschließen und einfach nur dazuliegen, bis nichts mehr existiert.
    Ich schiebe die schrecklichen, schreienden Bilder in eine dunkle, stille Ecke meines Bewusstseins, die jeden Tag tiefer und überfüllter wird. Eines Tages, schon bald, werden all die Dinge, die ich dort hineinstopfe, herausplatzen und den ganzen Rest von mir infizieren. Vielleicht ist das dann der Tag, an dem die Tochter wie ihre Mutter wird. Doch bis dahin habe ich noch alles unter Kontrolle.
    Ich muss nicht weit laufen, um ein zerbrochenes Fenster zu finden. Wenn man bedenkt, wie oft ich gegen mein Fens ter gehauen habe und es doch nicht einschlagen konnte, will ich mir nicht vorstellen, wie aufgeputscht der Typ sein muss, der dieses hier zum Bersten gebracht hat. Der Gedanke ermuntert mich nicht gerade, zurück ins Gebäude zu schleichen.
    Ich renne von Büro zu Büro, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, und rufe in lautem Flüsterton nach meiner Mutter.
    In dem Flur, der zur Küche führt, liegt ein Mann am Boden. Seine Brust

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