Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ihn nicht zu wecken, und lege die Kette fest um seine Handgelenke. Dann wickle ich sie mehrere Male um die Metallbeine des Rollwagens, bis sie ganz straff gespannt ist. Mit einem befriedigenden Klicken lasse ich das Schloss zuschnappen.
Die Kette kann an den Beinen des Rollwagens rauf- und runterrutschen, aber lösen kann sie sich nicht. Die Idee ist sogar noch besser, als ich anfangs dachte, denn jetzt kann ich den Engel bewegen, ohne dass er die Möglichkeit hat, wegzulaufen. Wo immer er auch hinwill, der Rollwagen geht mit.
Ich wickle seine Flügel wieder in die Decke ein und verstaue sie in einem der großen, metallenen Aktenschränke neben der Küche. Als ich die Akten aus der Schublade nehme und sie auf dem Schrank staple, komme ich mir beinahe wie ein Grabjäger vor. Jede dieser Akten hat einmal etwas bedeutet. Ein Zuhause, ein Patent, ein Unternehmen. Irgendjemandes Traum, in einem einsamen Büro als Staubfänger zurückgelassen.
Dann fällt mir noch ein, dass ich den Schlüssel des Fahrradschlosses am besten in die Schublade lege, in der ich das Engelsschwert in der ersten Nacht verwahrt habe.
Ich eile durch die Lobby und schlüpfe wieder in das Eckbüro. Der Engel liegt noch immer in tiefem Schlaf oder auch im Koma. Keine Ahnung, was von beidem. Nachdem ich die Tür verriegelt habe, mache ich es mir auf dem Vorstandssessel bequem.
Sein schönes Gesicht verschwimmt vor meinen Augen, während mir die Lider schwer werden. Seit zwei Tagen habe ich nicht geschlafen, immer in der Angst, die eine Chance zu verpassen, die sich mir vielleicht bietet, wenn der Engel aufwacht, um mir womöglich wenig später unter den Händen wegzusterben. Wenn er schläft, sieht er aus wie ein blutender Märchenprinz, den man in einem Verlies angekettet hat. Als ich klein war, habe ich mir immer vorgestellt, Aschenputtel zu sein. Aber ich schätze, diese Sache hier macht mich eher zur bösen Hexe.
Andererseits lebte Aschenputtel auch nicht in einer postapokalyptischen Welt, in die Racheengel eingefallen sind.
Schon vor dem Aufwachen weiß ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Im Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlaf höre ich Glas bersten. Noch bevor das Geräusch verklingt, bin ich hellwach und in Alarmbereitschaft.
Eine Hand hält mir den Mund zu.
Mit einem Flüstern, leichter als Luft, bringt mich der Engel zum Schweigen. Das Erste, was ich in dem fahlen Mondlicht erblicke, ist der metallene Rollwagen. Der Engel muss im Bruchteil der Sekunde, die Glas zum Bersten braucht, von der Couch aufgesprungen sein und den Wagen zu mir gerollt haben.
Mir dämmert, dass er und ich vorläufig auf derselben Seite stehen, dass jemand anders eine Bedrohung für uns beide darstellt.
9
Unter der Tür wandert ein Lichtstrahl hin und her.
Als ich eingeschlafen bin, waren die Neonlichter noch an, doch jetzt ist es dunkel und nur das Mondlicht fällt durch das Fenster herein. Das Licht, das sich vor dem Türspalt bewegt, sieht aus wie der hin und her zuckende Strahl einer Taschenlampe. Entweder handelt es sich um einen Einbrecher, oder meine Mutter hat eine Taschenlampe eingeschaltet, als die Lichter ausgegangen sind – ein sicherer Hinweis auf ein bewohntes Gebäude.
Nicht, dass sie sich der Risiken nicht bewusst wäre. Blöd ist sie nun wirklich nicht. Es ist nur: Bei ihrer Art von Paranoia fürchtet sie sich eher vor übernatürlichen Beutejägern als vor normalen. Deswegen ist es ihr manchmal wichtiger, »das Böse« abzuwehren, als zu verhindern, dass Sterbliche sie aufspüren. Ich Glückspilz.
Obwohl er angekettet ist und einen Rollwagen hinter sich herzieht, bewegt sich der Engel wie eine Katze in Richtung Tür.
Dunkle Flecke sickern als Rorschach-Klecks durch die weißen Verbände auf seinem Rücken. Er mag kräftig genug sein, ein Tape zu zerreißen, aber er ist immer noch verwundet und blutet. Wie stark ist er wirklich? Stark genug, um gegen ein halbes Dutzend Straßenrowdys zu kämpfen, die so verzweifelt sind, dass sie nachts umherstreifen?
Mit einem Mal wünschte ich, ich hätte ihn nicht angekettet. Ich könnte wetten, dass der Einbrecher – wer immer das auch sein mag – nicht alleine ist. Nicht bei Nacht.
»Hall-ooo!«, ruft eine männliche Stimme scherzhaft in die Dunkelheit. »Jemand zu Hause?«
Die Lobby ist komplett mit Teppich ausgelegt, deswegen kann ich nicht sagen, wie viele es sind, bis aus allen möglichen Richtungen Gegenstände herunterstürzen. Es klingt, als wären sie mindestens zu dritt.
Wo ist
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