Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ist nackt, man hat ihm das Shirt weggerissen. Fünf Buttermesser ragen kreisförmig aus seiner Brust heraus. Jemand hat die Messerspitzen mit einem puderrosa farbenen Lippenstift zu einem Pentagramm verbunden. Blut blubbert aus den Einstichen hervor. Unter Schock, mit weit aufgerissenen Augen, starrt der Mann auf das, was einst seine Brust war, als könne er nicht glauben, dass sie tatsächlich etwas mit ihm zu tun hat.
Meine Mutter ist also in Sicherheit.
Aber wenn ich sehe, was sie mit diesem Mann hier angestellt hat, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob das gut ist. Sie hat sein Herz absichtlich verfehlt, damit er langsam verblutet.
Auch wenn der Typ meine Mom angegriffen hat, hätte ich früher, in der alten Welt, einen Krankenwagen gerufen. Die Ärzte hätten ihn wieder zusammengeflickt, und im Gefängnis hätte er alle Zeit der Welt gehabt, sich zu erholen.
Jetzt gehe ich einfach nur um ihn herum und überlasse ihn seinem langsamen Tod.
Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen flüchtigen Blick auf einen weiblich aussehenden Schatten, der durch eine Seitentür nach draußen schlüpft. Die Frau hält inne, bevor sich die Tür schließt, und sieht mich an. Es ist meine Mutter, die mir wie wild zuwinkt und mir bedeutet, mit ihr zu kommen. Ich weiß, ich sollte ihr folgen, und tatsächlich mache ich zwei Schritte auf sie zu. Doch ich kann das Ächzen und den Krach des kolossalen Kampfes, der sich am anderen Ende des Raums abspielt, nicht ignorieren.
Der Engel ist von einer Gang verlotterter, aber tödlich aussehender Typen umgeben.
Es müssen mindestens zehn sein. Drei von ihnen liegen bewusstlos oder tot außerhalb der Kampfzone. Zwei wei tere müssen gerade ein paar Hiebe einstecken, während der Engel den Wagen wie einen Morgenstern um sich schwingt. Doch sogar von hier aus, sogar im schwachen Mondlicht, das durch die Glastüren hereinfällt, kann ich die purpurroten Flecken sehen, die sich auf seinen Verbänden ausbreiten. Der Wagen dürfte an die fünfzig Kilo wiegen. Der Engel ist sichtlich erschöpft, und die anderen rücken immer näher, bereit, ihm den Todesstoß zu versetzen.
Im D o - j o - habe ich mal mit mehreren Personen gleichzeitig ein Sparring durchgeführt, und letzten Sommer war ich Assistenzlehrerin in einem Selbstverteidigungskurs für Fortgeschrittene, der sich »Mehrere Angreifer« nannte. Trotzdem habe ich noch nie gegen mehr als drei Leute gleichzeitig gekämpft. Und keiner meiner Gegner wollte mich je wirklich töten. Ich bin nicht blöd genug zu glauben, dass ich mithilfe eines verkrüppelten Engels sechs verzweifelte Typen gleichzeitig fertigmachen kann. Allein beim Gedanken daran will mein Herz aus meiner Brust galoppieren.
Meine Mutter winkt mir erneut zu, lockt mich in die Freiheit.
Am anderen Ende der Lobby ist ein Krachen zu hören, gefolgt von einem schmerzerfüllten Ächzen. Mit jedem Schlag, den der Engel einstecken muss, spüre ich, wie sich Paige weiter von mir entfernt.
Ich mache meiner Mutter ein Zeichen zu verschwinden.
Noch einmal winkt sie mich zu sich, panischer diesmal.
Ich schüttle den Kopf und bedeute ihr, zu gehen.
Da schlüpft sie endlich in die Dunkelheit und verschwindet hinter der sich schließenden Tür.
Ich stürze zu dem Aktenschrank neben der Küche. Blitzschnell überlege ich, was dafür und was dagegen spricht, das Engelsschwert zu benutzen. Schließlich entscheide ich mich dagegen. Ich könnte vielleicht eine Person damit aufschlitzen, aber so ganz ohne Training lasse ich es mir sicher im Nu abjagen.
Stattdessen schnappe ich mir die Flügel und den Schlüssel zu dem Kettenschloss des Engels. Den Schlüssel schiebe ich in meine Jeanstasche, die Flügel wickle ich rasch aus der Decke. Meine einzige Hoffnung ist, dass die Angst und der Selbsterhaltungstrieb der Gang auf meiner Seite sind. Bevor sich mein Gehirn wieder einschalten und mir sagen kann, was für eine bekloppte, riskante Idee das hier ist, sprinte ich rüber in den schummerigen Korridor, in dem das Mondlicht gerade hell genug ist, dass man meine Silhouette sehen kann, aber nicht hell genug, um irgendein Detail preiszugeben.
Die Gang hat den Engel in eine Ecke getrieben.
Er hält sich wacker, doch seine Gegner haben seine Verletzungen entdeckt – ganz zu schweigen davon, dass er an einen seltsamen, schweren Wagen gekettet ist. Sie werden nicht aufgeben, jetzt, da sie Blut gerochen haben.
Die Flügel in den Händen, verschränke ich meine Arme hinter dem Rücken. Die Schwingen
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