Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
sehr alten Geschichten sind.
»Wenn du glaubst, das sei schlimm, dann hättest du erst mal sehen sollen, wie hart die Frauen bestraft wurden.«
Es ist fast, als würde er mich auffordern, nachzufragen. Hier ist meine Chance, mehr herauszufinden. Doch ich merke, dass ich eigentlich gar nicht wissen will, wie man bestraft wird, wenn man sich in einen Engel verliebt. Stattdessen schaue ich zu, wie die trockenen Nadeln beim Laufen unter meinen Füßen zerbrechen.
Der Skyline Boulevard endet abrupt am Highway 92. Wir folgen dem Freeway 280 in nördlicher Richtung in die einst dicht besiedelte Gegend im Süden von San Francisco. Der Freeway ist eine Hauptverkehrsstraße, die direkt nach San Francisco führt, also sollte es mich eigentlich nicht überraschen, einen echten Lkw auf der Straße unter uns zu hören. Doch das tut es.
Es ist fast schon einen Monat her, seit ich das letzte Mal ein fahrendes Auto gehört habe. Es gibt noch jede Menge funktionierender Autos, jede Menge Benzin, doch ich wusste nicht, dass wir auch noch frei befahrbare Straßen haben. Wir hocken uns ins Gebüsch und beobachten die Straße. Der Wind fährt durch mein Sweatshirt und löst ein paar Strähnen aus meinem Pferdeschwanz.
Unter uns schlängelt sich ein Geländewagen, ein schwar zer Hummer, auf einem freigeräumten Pfad zwischen leeren Autos durch. Dann bleibt er eine Weile stehen. Bei ausgeschaltetem Motor könnte man ihn nicht von den tausend anderen verlassenen Autos auf den Straßen unterscheiden. Als sich der Wagen noch bewegt hat, konnte ich den freigeschaufelten Pfad gut erkennen. Doch nun fällt mir auf, dass er sich clever dahinwindet und manchmal sogar nicht weiterzuführen scheint, um zu verbergen, dass es sich hier überhaupt um einen Pfad handelt.
Jetzt, da der Geländewagen stehen geblieben ist, ist der Weg blockiert. Man kann ihn nur schwer erkennen, wenn man nicht weiß, dass es ihn gibt. Der Hummer ist nur ein Wagen in einem Meer leerer Autos, und der Pfad nur ein Muster aus Lücken in einem endlosen Labyrinth. Am Boden würde man den Fahrer und die Passagiere vermutlich sehen können, doch aus der Luft kann man nie wissen. Die Typen tarnen sich, damit die Engel sie nicht entdecken.
»Obis Männer«, sagt Raffe, der offensichtlich zur selben Schlussfolgerung gelangt ist wie ich. »Clever«, fügt er hinzu. In seiner Stimme schwingt Respekt mit.
Es ist wirklich clever. Egal wohin man will, die Straßen sind der direkte Weg. Der Motor des Hummer schaltet sich ab, und der Wagen verschwindet sehr effektiv in der Szenerie. Einen Moment später deutet Raffe nach oben. Winzige Tupfen stören den ansonsten klaren Himmel. Die Tupfen bewegen sich schnell und verwandeln sich in eine Engelsschar, die in einer V-Formation fliegt. Sie fegen in niedriger Höhe über den Highway hinweg, als wären sie auf der Jagd.
Ich halte den Atem an, ducke mich so tief ich kann in den Busch und frage mich, ob Raffe versuchen wird, sie auf sich aufmerksam zu machen. Wieder wird mir klar, wie wenig ich über Engel weiß. Ich habe keine Ahnung, ob Raffe ihre Aufmerksamkeit überhaupt willkommen wäre. Wie kann er erkennen, dass es sich nicht um Feinde handelt?
Wenn ich es schaffe, mich in das Versteck der Engel einzuschleusen, wie soll ich Paiges Entführer dann finden? Es wäre ja schon mal ein Anfang, wenn ich wenigstens ihre Namen oder ihre Einheitenkennung wüsste. Ohne dass es mir bewusst war, habe ich angenommen, die Engel würden in einer kleinen Gemeinschaft leben, etwas größer vielleicht als Obis Camp. Wenn ich das Camp erst mal gefunden hätte – so meine vage Vorstellung –, würde ich es beobachten und mir dann überlegen können, was zu tun ist.
Jetzt kommt mir zum ersten Mal in den Sinn, dass der Horst unter Umständen sehr viel größer ist. Zu groß, als dass Raffe noch sagen könnte, wer Freund ist und wer Feind. Groß genug, dass sich mörderische Gruppen in den eigenen Reihen aufhalten können. Sollte ich in ein Camp von der Größe einer römischen Invasionsarmee spazieren, kann ich dann auf Anhieb rausfinden, wo Paige gefangen gehalten wird, und einfach wieder mit ihr hinausmarschieren?
Neben mir löst sich die Anspannung aus Raffes Muskeln, und er drückt sich flach auf die Erde. Er hat entschieden, die Engel nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass er sie als feindlich identifiziert oder dass er sie einfach gar nicht erkannt hat.
So oder so schließe ich aus seinem Verhalten, dass
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