Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
lebendigem Leib gefressen worden.
Ich krümme mich zusammen und kotze so lange einzelne Brocken Trockenfutter, bis ich nur noch würge.
Schon die ganze Zeit steht da ein dürrer Mann mittleren Alters unter den Mädchen und weint. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern und sieht genau aus wie jemand, der in seinen Highschool-Jahren immer allein in der Mensa gegessen hat. Sein Schluchzen erschüttert seinen ganzen Körper. Eine Frau mit geröteten Augen steht neben ihm und schlingt die Arme um ihn.
»Es war ein Unfall«, sagt die Frau und streicht ihm beruhigend über den Rücken.
»Es war kein Unfall«, erwidert der Mann.
»Wir wollten das nicht.«
»Deswegen ist es noch lange nicht okay.«
»Natürlich ist es nicht okay«, sagt sie. »Aber wir werden das durchstehen. Wir alle.«
»Wer ist schlimmer, er oder wir?«
»Es ist nicht seine Schuld«, antwortet sie. »Er kann nicht anders. Er ist ein Opfer, kein Monster.«
»Wir müssen ihn von seinem Leid erlösen«, sagt er. Wieder entweicht ihm ein Schluchzen.
»Du würdest ihn einfach so aufgeben?« Ein wilder Ausdruck legt sich auf ihr Gesicht, und sie weicht einen Schritt zurück.
Jetzt, da er sich nicht mehr auf sie stützen kann, sieht der Mann noch verlorener aus. Wut versteift seinen Rücken. Mit jäher Heftigkeit streckt er den Arm aus und deutet auf die vom Baum hängenden Kinder. »Wir haben ihm Menschen zum Fraß vorgeworfen!«
»Er ist bloß krank, das ist alles«, erwidert sie. »Wir müssen einfach nur dafür sorgen, dass es ihm besser geht.«
»Wie denn?« Er geht leicht in die Hocke, um sie anzusehen. In seinem Blick liegt eine verzweifelte Intensität. »Was sollen wir tun, ihn ins Krankenhaus bringen?«
Sie umfasst sein Gesicht. »Wenn wir ihn erst wiederhaben, werden wir schon wissen, was zu tun ist. Vertrau mir.«
Er wendet sich von ihr ab. »Wir sind zu weit gegangen. Er ist nicht mehr unser Sohn. Er ist ein Monster. Wir alle sind zu Monstern geworden.«
Sie wirft den Kopf zurück und gibt ihm eine Ohrfeige. Ihre Hand, die auf seine Wange klatscht, klingt so alarmierend wie ein Schuss.
Sie streiten weiter und würdigen uns keines Blicks. Es ist, als wäre jede Gefahr, die unter Umständen von uns ausgehen könnte, völlig irrelevant im Vergleich zu dem, was sie gerade durchmachen. Als wäre es eine unnötige Verschwendung von Energie, uns auch nur zu bemerken. Ich bin nicht sicher, was genau sie sagen, doch dunkle Vermutungen machen sich in den hintersten Winkeln meines Verstandes breit.
Raffe packt mich am Ellbogen und führt mich hügelabwärts um die Verrückten und die halb aufgefressenen, grotesk vom Baum hängenden Mädchen herum.
Säure steigt mir im Magen auf und droht, wieder hochzukommen. Doch ich schlucke entschlossen und zwinge meine Beine, Raffe zu folgen.
Den Blick auf seine Füße gesenkt, versuche ich, nicht daran zu denken, was sich hinter uns auf dem Hügel befindet. Ein schwacher Geruch steigt mir in die Nase, auf den mein Magen mit einem vertrauten Ziehen reagiert. Ich sehe mich um und versuche, die Quelle zu lokalisieren. Es ist der schweflige Geruch von verfaulten Eiern. In Laub gebettet liegen sie auf dem Boden, meine Nase hat mich dorthin geführt. Sie haben an mehreren Stellen Sprünge, sodass ich das braune Eigelb sehen kann. Das Pink, mit dem die Schale vor langer Zeit gefärbt wurde, ist noch schwach zu erkennen.
Ich blicke den Hügel hinauf. Von hier aus hat man eine perfekte Sicht auf die zwischen den Bäumen hängenden Mädchen.
Ich werde wohl nie erfahren, ob meine Mutter die Eier als einen schützenden Talisman hierhergelegt hat oder ob sie damit nur die Art Fantasie auslebt, welche die alten Medien mit Schlagzeilen wie »Der Teufel hat mich dazu gebracht« überschrieben hätten. Beides ist möglich, seit sie überhaupt keine Medikamente mehr nimmt.
Mein Magen zieht sich zusammen, und ich muss mich wieder vornüberbeugen und würgen.
Eine warme Hand berührt mich an der Schulter und hält mir eine Flasche Wasser vor die Nase. Ich nehme einen Schluck, spüle meinen Mund und spucke dann aus. Das Wasser spritzt auf die Eier, die sich unter der Wucht des Aufpralls bewegen. An einem läuft dunkles Eigelb herunter, das aussieht wie altes Blut. Das andere rollt den Hang hinunter, bis es unversehrt vor einer Baumwurzel liegen bleibt. Wie ein Schwall aus Schuld verdunkelt das Wasser seine Pinkfärbung.
Ein warmer Arm legt sich um meine Schulter und hilft mir, mich aufzurichten. »Komm«, sagt
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