Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
müssen.
Als ich aus dem Badezimmer komme, ist Raffe abmarschbereit. Sein Gesicht ist von allem Blut gesäubert, das nasse Haar tropft ihm auf die Schultern. Ich bezweifle, dass er sich sorgfältiger gewaschen hat als ich, trotzdem sieht er frischer, viel frischer aus, als ich mich fühle.
Er hat keine sichtbaren Kratzer oder Wunden. Die blutigen Jeans von gestern hat er gegen eine Cargohose eingetauscht, die ihm überraschend gut steht. Dazu hat er ein langärmliges Shirt aufgetrieben, das das tiefe Blau seiner Augen betont. Es sitzt ein bisschen eng um seine breiten Schultern und ein bisschen locker um den Rumpf, aber er schafft es, dass es trotzdem gut aussieht.
Ich schnappe mir ein Sweatshirt und eine Jeans aus dem Schrank. Ich muss die Ärmel und Hosenbeine hochkrempeln, aber für unsere Zwecke wird es gehen.
Als wir das Haus verlassen, frage ich mich, wie es meiner Mutter wohl geht. Ein Teil von mir sorgt sich um sie, ein anderer ist froh, sie los zu sein. Und alles an mir fühlt sich schuldig, weil ich nicht besser auf sie aufgepasst habe. Sie ist wie eine verwundete Wildkatze. Niemand kann wirk lich auf sie aufpassen, es sei denn, man sperrt sie in einen Käfig. Doch das würde sie hassen und ich auch. Ich hoffe, sie schafft es, sich von den Leuten fernzuhalten. Ihnen und sich selbst zuliebe.
Sobald wir einen Schritt aus dem Haus tun, wendet sich Raffe nach rechts. Und wieder folge ich ihm in der Hoffnung, dass er weiß, wohin er geht. Anders als ich ist er nicht steif, und er hinkt auch nicht. Ich glaube, er gewöhnt sich langsam daran, sich zu Fuß fortzubewegen. Ich sage nichts, denn ich will ihn nicht an den Grund erinnern, aus dem er läuft statt zu fliegen.
Mein Rucksack ist viel leichter als vorher. Jetzt haben wir zwar nichts mehr dabei, um im Freien zu campen, doch bei dem Gedanken, schneller rennen zu können, fühle ich mich sofort besser. Auch das neue Taschenmesser an meinem Gürtel trägt dazu bei, dass ich mich wohler fühle. Raffe hat es irgendwo gefunden und mir im Rausgehen gegeben. Außerdem habe ich noch zwei Steakmesser entdeckt und sie in meine Stiefel gesteckt. Wer auch immer hier gelebt hat, mochte Steaks. Das hier sind hochqualitative deutsche Ganzmetall-Messer. Jetzt, nachdem ich sie in Händen gehalten habe, werde ich mich nie wieder mit diesem gezahnten Blechschrott mit den hölzernen Griffen abfinden können.
Es ist ein schöner Tag. Der Himmel über den Mammutbäumen ist von einem lebendigen Blau, die Luft kühl und angenehm.
Das Gefühl von Erleichterung hält nicht lange an. Schnell füllt sich mein Kopf mit Sorgen, was da im Wald auf uns lauern könnte und ob Obis Männer uns jagen. Während wir den Hang entlanggehen, erblicke ich die Lichtung, von der aus links von uns eine Straße weiterführen müsste.
Raffe bleibt vor mir stehen. Ich tue es ihm nach und halte den Atem an. Dann höre ich es.
Jemand weint. Es ist nicht das untröstliche Weinen von jemandem, der einen Familienangehörigen verloren hat. Das habe ich in den letzten Wochen oft genug gehört, und ich weiß, wie es klingt. In diesem Weinen liegt kein Schock und keine Verweigerung, nur echter Kummer und der Schmerz, ihn als lebenslangen Gefährten akzeptieren zu müssen.
Raffe und ich wechseln einen Blick. Was ist sicherer? Zur Straße hinaufgehen und den Trauernden meiden? Oder im Wald bleiben und eine Begegnung riskieren? Letzteres wahrscheinlich. Raffe scheint das Gleiche zu denken, denn er wendet sich um und läuft weiter in den Wald hinein.
Es dauert nicht lange, bis wir die Mädchen sehen.
Sie hängen an einem Baum. Die Seile sind nicht um ihre Hälse, sondern unter ihren Armen um die Brust geschlungen.
Ein Mädchen sieht aus, als wäre es ungefähr in Paiges Alter, das andere, als wäre es ein paar Jahre älter. Demnach wären sie etwa sieben und neun Jahre alt. Die Hand des älteren Mädchens ist noch immer in das Kleid der Jüngeren gekrallt, so als hätte sie versucht, sie hochzuhalten, sie in Sicherheit zu bringen.
Sie sind gleich angezogen. Die Kleidchen sehen aus, als wären sie mal gestreift gewesen, aber es ist schwer zu sagen, jetzt, da der gemusterte Stoff von Blut durchtränkt und fast vollständig zerfetzt ist. Was auch immer ihre Beine und Rümpfe abgenagt hat, scheint satt gewesen zu sein, bevor es sich auch noch über die Brustkörbe hermachen konnte. Oder es war zu klein, um so hoch zu kommen.
Das Schlimmste ist der schmerzverzerrte Ausdruck auf ihren Gesichtern. Sie sind bei
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