Angelglass (German Edition)
auf. Bis später.«
Als Karla nach oben geht, höre ich sie vor Jennys Tür stehen bleiben. »Ich will mit dir reden, Fräulein«, sagt sie mit gedämpfter Stimme.
Dieses Haus wirkt sehr verwirrend auf mich. Es kommt mir vor, als gäbe es irgendeine unausgesprochene Wahrheit, die ich noch erfassen muss; irgendwelche geheimen Zeichen, die hinter meinem Rücken gemacht werden; irgendeine Art von unterschwelliger Telepathie, die mit einer Schärfe in meine vernebelten Gedanken schneidet und sie durcheinanderbringt.
Wie beim Auspacken eines Geschenks versetzt mich Prag immer wieder in Erstaunen. Nur wenn ich nachts spazieren gehe, finde ich ein gewisses Maß an Ruhe und Frieden. Ich verlasse das dunkle Haus, gehe durch den Garten und verschließe das Tor sorgfältig hinter mir. Die Schatten von Malá Strana und dem Lesser-Viertel erscheinen mir tief und vielschichtig, während ich bewegungslos am Tor stehen bleibe, bis sich meine Augen an die kalte Dunkelheit gewöhnt haben.
Die Nacht in Prag ist keineswegs leise, zumindest nicht für meine Ohren. An jeder Ecke höre ich Geister flüstern; der Klang ihrer Schuhe vereinigt sich mit meinen Schritten auf dem nachhallenden Kopfsteinpflaster, und genau wie ich ziehen sie ihre Mäntel fester um sich, wenn der eisige Wind von der Moldau herüberweht. Mit ihren unsichtbaren Augen betrachten sie Prag, und dieses Prag, das sich ihnen präsentiert, sieht für jeden von ihnen ganz anders aus als das, was sich in der Dunkelheit vor mir entfaltet. Während meiner nächtlichen Spaziergänge habe ich beinahe das Gefühl, mit den Augen dieser Geister sehen zu können, doch wenn im Morgengrauen die blasse Sonne den Nebel über dem Fluss auflöst, verschwinden sie, und jedes Verstehen, dem ich mich in diesen wenigen Stunden vielleicht angenähert habe, löst sich mit ihnen auf.
Als ich eine der Seitenstraßen verlasse, laufe ich im Uhrzeigersinn um den Malá-Strana-Platz und umrunde die St.-Nikolaus-Kirche. Während meiner nächtlichen Exkursionen habe ich Prag gut kennengelernt, seine Straßen und Sehenswürdigkeiten, seine Denkmäler und Echos. Ich bleibe an der Pestsäule stehen und höre das lautlose Röcheln der Toten; zehn Prozent der Bevölkerung hat das Fieber vor drei Jahrhunderten hinweggerafft. Draußen vor dem Grömling-Palast, dem Haus zum Steinernen Tisch, stapft Kafkas Geist durch längst geschmolzenen Schnee, auf dem Weg in das Café im zweiten Stock, um dort zu träumen und vor sich hin zu brüten.
Aus dem Liechtenstein-Palast, der den oberen Teil des Platzes beherrscht, höre ich Musik dringen. Hier sind allerdings keine Geister am Werk, sondern Musikstudenten, die, genauso schlaf- und rastlos wie ich, in den schwach erleuchteten Räumen der Musikakademie zu später Stunde ihre Stimmübungen praktizieren. Und wie immer und überall erhebt sich das stolze Schloss über das Geschehen und behütet die Stadt zu seinen Füßen. So beeindruckend das Schloss auch sein mag, so gibt sich Malá Strana doch unbeeindruckt; es betreibt seine eigenen Geschäfte, versteckt seine Geheimnisse im Gewirr der Gassen und Plätzchen, während sich die elektrischen Straßenlaternen vom illuminierten Festungsbau auf der Anhöhe abwenden und die Mysterien und Geheimnisse durch halb verdeckte Lampengläser in Augenschein nehmen.
Ich wende mich vom Platz ab und schlüpfe wieder in die dunklen Gassen. Von den Mauern wird ein plötzliches Geräusch zurückgeworfen: hektische Schritte, ein Ruf, das Zuknallen eines Tores. Allerdings ist es unmöglich zu sagen, wo die Geräusche herkommen. Schnell laufe ich zurück zum Haus.
Dort stoße ich auf Cody, der in der Dunkelheit am Tor steht und raucht. »Poutnik? Bist du das?«, fragt er misstrauisch. Ich trete aus den Schatten in das blasse Licht der Sterne. »Hallo. Alles in Ordnung?«
»Wo bist du gewesen?«, fragt er und blickt mich finster an. »Es ist vier Uhr morgens.«
»Ich bin rumgelaufen«, erwidere ich. »Einfach bloß rumgelaufen.«
Cody wirft seine Zigarette aufs Pflaster und tritt sie mit dem Schuh aus. »Der Eindringling ist wieder hier gewesen. Sieh dir das mal an.«
Er tritt beiseite, um mich in den Garten zu lassen. Unterhalb des Fensters liegt ein zerbrochener Blumentopf, dessen Überreste mit Erde bedeckt sind.
»Ich hab ein Geräusch gehört«, sagt Cody. »Der Typ hat bestimmt versucht, durchs Fenster zu sehen. Als ich runterkam, konnte ich gerade noch erkennen, dass er zum Tor hinausrannte.«
Ich suche nach den passenden
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