Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
lief sie weiter, leichtfüßiger als ein Reh. Das Unterholz roch nach Pilzen und Moos. Von einem kurz zuvor niedergegangenen Regenschauer waren noch ein paar verstreute kleine Pfützen übrig, die sie mit einem Satz übersprang. Sie war glücklich. Monsieur Molines hatte ihr einen Ehemann versprochen. Sie war sich noch nicht sicher, ob es sich dabei um ein beachtliches Geschenk handelte. Was sollte sie damit machen...? Aber wenn er genauso nett wäre wie Nicolas, hätte sie immer einen Spielgefährten zur Hand, um mit ihm Flusskrebse zu fangen.
Sie bog in die Rosskastanienallee ein.
Als man diese offenbar über Konstantinopel aus Indien eingeführten oder aus den Gärten des Kaisers in Wien stammenden Bäume angepflanzt hatte, war das den hiesigen Bauern wie ein unvorstellbarer Luxus erschienen!
Die Plessis-Bellières hatten schon immer extravagante Ideen gehabt! Aber als sich im Frühjahr die großen sternförmigen Blätter mit hohen, weißen, wie duftende Kerzen anmutenden Blüten schmückten, strömten die Menschen herbei, um sie zu bewundern. Ihre Früchte hatten keinen besonderen Nutzen. Man nannte sie »Rosskastanien«, weil die Türken sie, wie es hieß, ihren Pferden gaben, damit diese beim Rennen gewannen. Angélique hatte sich angewöhnt, sie zu sammeln. Zum einen weil sie die glänzenden, schwarzbraunen Früchte in ihrer zarten grünen Hülle so schön fand, vor allem aber weil sie einen Teil davon zu Mélusine brachte, die daraus Fieberarzneien herstellte.
Doch an diesem Tag verzichtete sie darauf, ihre Taschen zu füllen. Sie hatte es eilig.
Jedes Mal nahm sie der gleiche Zauber gefangen.
Am Ende der Allee tauchte der Umriss des Schlosses auf. Weiß leuchtend hob es sich vor dem blauen Hintergrund des Himmels und dem dunkleren Blau des Teichs ab, in dem es sich spiegelte.
Das Schloss Plessis-Bellière war gewiss ein echtes Märchenschloss, denn in der ganzen Region gab es kein zweites, das ihm glich. Die anderen Adelssitze der Umgebung waren wie Monteloup – grau, moosbewachsen, fensterlos. Hier hingegen hatte ein italienischer Künstler im vergangenen Jahrhundert unzählige Fenster, Lukarnen und Portiken angebracht. Eine Miniaturzugbrücke führte über einen mit Seerosen bedeckten Wassergraben. Die Türmchen und Pfefferbüchsen an den Ecken dienten nur der Zierde. Dennoch waren die Linien des Gebäudes schlicht. Die Bögen, die die geschmeidigen Gewölbe miteinander
verbanden, wirkten nicht überladen, sondern strahlten die natürliche Anmut von Pflanzen oder Girlanden aus. Nur über dem Haupteingang erinnerte ein Wappenschild mit einer aufgeprägten Flammen speienden Chimäre noch an den bizarren Schmuck der frühen Renaissance.
Mit erstaunlicher Gewandtheit kletterte Angélique auf die Terrasse. Von dort aus hangelte sie sich an den Verzierungen der Fenster und Balkone empor in den ersten Stock, wo sie auf einer breiten Regenrinne bequem stehen konnte. Dann drückte sie ihr Gesicht ans Fenster.
Sie war schon oft hierhergekommen und wurde dennoch nicht müde, dieses geheimnisvolle verschlossene Zimmer zu betrachten, wo sie im Halbdunkel den silbernen und elfenbeinernen Zierrat auf den mit Einlegearbeiten geschmückten Möbeln, die frischen orangeroten und blauen Farben der neuen Wandbehänge und den strahlenden Glanz der Gemälde an den Wänden funkeln sah. Im Hintergrund gab es einen Alkoven mit einem damastenen Bettüberwurf. In den schweren Bettvorhängen schimmerte die gleiche eingewebte goldene Seide. Über dem Kamin wurde ihr Blick von einem großen Gemälde angezogen, das Angélique jedes Mal aufs Neue mit verwirrtem Staunen erfüllte. Der Rahmen umschloss eine Welt, von der sie bislang kaum etwas geahnt hatte: das frivole Reich der Bewohner des Olymps mit ihrer heidnischen, freizügigen Grazie. Man sah einen Gott und eine Göttin, die sich unter dem Blick eines bärtigen Fauns umschlangen, und ihre herrlichen weißen, nackten Körper symbolisierten genau wie das Schloss selbst einen elysischen Frieden am Rand des wilden Forsts.
Eine Erregung erfasste Angélique, die ihr beinahe den Atem raubte.
Ich möchte diese Dinge so gerne berühren, dachte sie bei sich, ich möchte mit meinen Händen darüberstreichen. Ich möchte, dass sie eines Tages mir gehören...
Auf dem Rückweg war der Baron so tief in Gedanken versunken, dass er sein Pferd im Schritt gehen ließ. Angélique schwieg, und fast hatte er vergessen, dass sie vor ihm im Sattel saß.
Als sie die Kuppe einer kleinen Anhöhe
Weitere Kostenlose Bücher