Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
verstummt; er atmete schneller. Unruhig sah er sich mehrmals ärgerlich um. Die Straße war recht ruhig. Trotzdem herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Sogar eine Horde Schüler kam vorbei, die lautstark »Uuh! Uuh!« riefen, als sie das junge Paar im Schatten der Mauer entdeckten. Der Bursche trat einen Schritt zurück und stampfte mit dem Fuß auf.
»Oh! Das macht mich wahnsinnig! Die Häuser in diesem verfluchten Nest sind brechend voll. Sogar die hohen Herren müssen ihre Mätressen in Vorzimmern empfangen. Sag mir, wo können wir denn hingehen, um ein wenig Ruhe zu haben?«
»Es ist doch gut hier«, murmelte sie.
Aber er war nicht zufrieden. Er warf einen Blick in den kleinen Geldbeutel, den er am Gürtel trug, und seine Miene hellte sich auf.
»Komm mit! Ich habe eine Idee! Wir werden schon einen passenden Salon für uns finden.«
Er nahm ihre Hand, und sie liefen durch die Straßen, bis sie den Platz vor Notre-Dame-la-Grande erreichten. Angélique sah die Stadt zum ersten Mal wirklich. Bewundernd betrachtete sie die Kirchenfassade, die kunstvoll wie eine indische Schatulle gearbeitet war und von zwei Glockentürmen mit pinienzapfenförmigem Dach flankiert wurde. Es hatte fast den Anschein, als wäre der Stein selbst unter dem magischen Meißel der Steinmetzen erblüht.
Der junge Henri forderte seine Begleiterin auf, unter dem Portalvorbau auf ihn zu warten. Kurz darauf kam er höchst zufrieden mit einem Schlüssel in der Hand wieder zurück.
»Der Küster hat mir für eine Weile die Kanzel vermietet.«
»Die Kanzel«, wiederholte Angélique verblüfft.
»Pah! Das ist nicht das erste Mal, dass er armen Liebespaaren diesen Dienst erweist.«
Er hatte den Arm wieder um ihre Taille gelegt und stieg die Stufen zum Kirchenvorraum hinab, der ein wenig abgesenkt lag.
Angélique war überrascht, wie finster und kühl es in dem gewölbten Raum war. Die Kirchen des Poitou sind die dunkelsten in ganz Frankreich. In den Schatten dieser massiven, auf gewaltigen Pfeilern ruhenden Bauwerke verbergen sich alte Wandmalereien, deren lebhafte Farben sich erst nach und nach den überraschten Besuchern offenbaren. Schweigend gingen die beiden Heranwachsenden weiter.
»Mir ist kalt«, murmelte Angélique und zog ihren Umhang fester um sich.
Schützend legte er einen Arm um ihre Schultern, aber seine Erregung war verflogen, und er wirkte eingeschüchtert.
Er öffnete die erste Tür zur monumentalen Kanzel, dann stieg er die Stufen hinauf und betrat die Rotunde, von der herab der Priester predigte. Ohne nachzudenken, setzte Angélique einen Fuß vor den anderen und folgte ihm.
Die beiden ließen sich auf dem mit einem Samtteppich bedeckten Boden nieder. Die Kirche und die von Weihrauchduft erfüllte tiefe Dunkelheit schienen die Unternehmungslust des Jungen gedämpft zu haben. Wieder legte er einen Arm um Angéliques Schultern und küsste sie sanft auf die Schläfe.
»Du bist so schön, meine kleine Geliebte«, sagte er und seufzte. »Du bist mir viel lieber als all die hohen Damen, die mich necken und ihr Spiel mit mir treiben. Das macht mir
nicht immer Freude, aber ich muss ihnen gefällig sein. Wenn du wüsstest...«
Wieder seufzte er. Sein Gesicht hatte seine ganze Kindlichkeit wiedergefunden.
»Schau her, ich will dir etwas Wunderschönes zeigen, etwas Außergewöhnliches«, sagte er und kramte in dem Beutel an seinem Gürtel.
Dann zog er ein kleines, leicht verschmutztes weißes Leinentuch mit schmalem Spitzenbesatz heraus.
»Ein Taschentuch«, sagte Angélique.
»Ja. Das Taschentuch des Königs. Er hat es heute Morgen fallen lassen. Ich habe es aufgehoben und als Glücksbringer behalten.«
Nachdenklich betrachtete er es eine Weile.
»Soll ich es dir als Liebespfand geben?«
»O ja!«, rief Angélique und streckte eilig die Hand danach aus.
Dabei schlug ihr Arm gegen die hölzerne Brüstung, und das Echo hallte laut unter den Gewölben wieder. Überrascht und ein wenig ängstlich erstarrten sie.
»Ich glaube, da kommt jemand«, flüsterte Angélique.
»Ich habe vergessen, die Kanzeltür unten an der Treppe zu schließen«, gestand der Junge mit betretener Miene.
Dann schwiegen sie und lauschten dem Klang sich nähernder Schritte. Jemand kam die Stufen zu ihrem Zufluchtsort herauf, und schließlich tauchte über ihnen der von einer schwarzen Kalotte bedeckte Kopf eines alten Priesters auf.
»Was macht ihr da, meine Kinder?«, wollte er wissen.
Der schlagfertige Page hatte seine Geschichte schon
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