Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
warme alte Hand.
Monsieur Vincent, dachte sie, war das der große Monsieur Vincent? Den der Marquis du Plessis das Gewissen des Königreichs nennt? Der die Adligen zwingt, den Armen die Suppe zu
reichen? Der jeden Tag von der Königin und dem König empfangen wird? Er wirkt so schlicht und sanft!
Ehe sie den Türklopfer hob, warf sie noch einen Blick auf die Stadt, die sich allmählich in Dunkelheit hüllte.
»Monsieur Vincent, segnet mich«, bat sie leise.
Kapitel 14
G ehorsam akzeptierte Angélique die Strafen, die ihr für dieses erneute Weglaufen auferlegt wurden. Von diesem Tag an veränderte sich ihr ungezähmtes Betragen. Sie widmete sich mit Eifer ihren Studien und war liebenswürdig zu ihren Mitschülerinnen. Sie schien sich endlich an den strengen Geist des Klosters gewöhnt zu haben.
Im September verließ ihre Schwester Hortense das Kloster. Eine entfernte Tante rief sie als Gesellschafterin zu sich nach Niort. In Wahrheit wünschte die Dame, die selbst von äußerst niederem Adel war und einen reichen Magistraten von dunkler Herkunft geheiratet hatte, dass ihr Sohn durch die Verbindung mit einem großen Namen ihrem Wappen ein wenig mehr Glanz verlieh. Der Vater hatte seinem Sohn gerade das Amt eines königlichen Prokurators in Paris gekauft, und zwischen all den Adligen sollte er unbedingt wie unter seinesgleichen auftreten können. Für beide Seiten war dies eine unverhoffte Gelegenheit. Und schon bald darauf wurde die Hochzeit gefeiert.
Unterdessen war der junge König Ludwig XIV. mit seiner Armee kreuz und quer durch sein gesamtes Reich gezogen. Er hatte die aufsässigen Einwohner von Bordeaux in ihre Schranken verwiesen und auch die Provinzen im Westen – das Poitou, Maine und die Normandie – wieder zur Vernunft gebracht. Anschließend war er nach Osten in die Champagne gereist, um sich nach der alten Tradition der französischen Könige in Reims krönen zu lassen.
Reims!
Hinter dem wogenden Meer der Weinberge lag Reims, die geheiligte Metropole, Mutterstadt, Zwillingsschwester Roms, wenn man der Legende Glauben schenkt, die besagt, dass sie von Remus gegründet worden sei, den Romulus nicht getötet, sondern nur vertrieben habe.
Unter den Gewölben der herrlichen gotischen Kathedrale und im farbigen Glanz, der durch die Scheiben perlte, stand der sechzehnjährige König nach einer tiefen Verneigung wieder aufrecht. Bis auf ein weit ausgeschnittenes, seidenes Hemd legte er alle Kleider ab.
Daraufhin salbte ihn der Erzbischof mit einer geheimnisvollen, leicht orangeroten und stark duftenden Substanz, dem heiligen Chrisam, das eine weiße Taube in jenen fernen, barbarischen Zeiten vom Himmel auf die Erde gebracht hatte, als der große Heilige Remigius an genau dieser Stelle den heidnischen König Clovis getauft und ihn dadurch zum allerchristlichsten König und Frankreich zur ältesten Tochter der Kirche gemacht hatte. Nachdem der Erzbischof mit Hilfe einer goldenen Nadel eine winzige Dosis dieses wundersamen Balsams aus seiner gläsernen Ampulle entnommen und es mit anderen erlesenen Ölen vermischt hatte, wurde der König am ganzen Körper damit gesalbt: am Kopf, an der Brust, zwischen den Schultern, an den Ellbogen, den Händen, den Beinen und an den Füßen.
Dann nahm der König die verschiedenen Attribute seiner Herrschaft, die sogenannten Regalien , entgegen. Man überreichte ihm die blau emaillierten goldenen Sporen, das Schwert mit dem juwelenbesetzten Griff und die dazugehörige Scheide, das Szepter sowie einen sechs Fuß hohen Stab aus Edelholz, der mit einer kleinen Statue von Karl dem Großen gekrönt war, der seinerseits Zepter und Weltkugel in der Hand hielt; dazu die »Gerechtigkeitshand«, jenen eine Elle langen Stab
aus reinem Gold, auf dem eine Hand mit zwei gestreckten Fingern befestigt war, ein Symbol für Strafe oder Schutz, das angeblich aus einem Narwalzahn geschnitzt sein sollte. Reinheit. Beständigkeit. Die Wahl eines äußerst seltenen Materials für die Rechtsprechung des Königs.
Alles ist Symbol. Und Juwel der Kunst und der Schönheit!
Der an seinen linken Ringfinger gesteckte Ring, der ihn mit seinem Volk verbindet. Die Schließe des schweren, hermelinbesetzten und mit goldenen Lilien geschmückten blauen Mantels. Der Kelch, aus dem er das Abendmahl empfangen soll.
Schließlich setzte man ihm die schwere Krönungskrone auf das lockige Haar. Sie war aus vier Goldplatten zusammengesetzt, die an der Basis durch goldene Lilien verbunden waren. Von diesen
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