Angélique - In den Gassen von Paris
unbeschwert, als sie sich so auf den Stufen des Justizpalasts von zwei fröhlichen jungen Burschen umschwärmen ließ, die anscheinend nichts weiter im Sinn hatten, als sie zu unterhalten und zum Lachen zu bringen.
Sie fühlte sich wie verjüngt und von der Last ihres Lebens befreit, von ihrer Verantwortung gegenüber einer ganzen kleinen Welt, die niemand anderen als sie hatte, und von diesem fast unmöglichen Unterfangen, das sie gegen unüberwindliche Widerstände zu vollbringen hatte …
Der Possenreißer fuhr in seinem improvisierten Lied fort.
»Einen kleinen Schusterjungen
hat sie vorgezogen.
La, la
hat sie vorgezogen …«
Der kleine Schusterjunge machte sich mit ihren Maßen davon und stieg, ebenfalls vor sich hinsummend, die Treppe hinauf.
Entspannt von den Gitarrenklängen, lehnte Angélique sich erneut an ihren zusammengefalteten Umhang, schloss die Augen und genoss den warmen Sonnenschein. Der Bursche sang leise weiter.
»Schöne, wenn du willst,
schlafen wir zusammen.
La, la…
schlafen wir zusammen!«
Aber er sang so leise, dass seine Worte vor allem den Zauber der Melodie trugen, die wie ein Schlaflied klang.
»In einem großen breiten Bett,
in einem großen breiten Bett,
mit schneeweißen Laken.
La, la … «
Als sie erwachte, fühlten sich ihre Glieder von ihrer halb liegenden Haltung auf den schmutzigen Stufen taub an und schmerzten. Die Sonne sank, und die Kirchtürme in der Umgebung begannen, sich dunkel und hochmütig vor dem goldfarbenen Himmel abzuzeichnen. Der Sänger und der junge Schuster waren fort.
Mühsam kam Angélique zu sich und sah sich leeren Blickes um. Irgendwo in dieser Stadt wartete eine Last auf sie, die sie sich erneut auf die Schultern laden musste; und sie wusste nicht einmal mehr, ob das einen Sinn hatte. Ausgestreckt auf den durch die Sonne erwärmten Stufen des Justizpalasts erschrak sie über die unwiderstehliche Raserei, die sie einmal mehr verstört durch die nächtlichen Straßen getrieben hatte. Würde das denn nie aufhören?
Um neuen Mut zu finden und ihre Angst zu beruhigen, blieb ihr nur noch die Hoffnung auf den Hellseher, der allerdings bis jetzt ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte. Danach gab es niemanden mehr, den sie um Rat bitten konnte.
Mühsam wie eine alte Frau stieg sie die Treppe hinauf.
Diese breite, förmliche Treppe, einst errichtet, um mit dem König befreundete Fürsten und deren Gefolge zu empfangen, stellte für viele Menschen so etwas wie den Weg nach Golgatha dar; symbolisierte sie doch alle Sorgen und Nöte eines Volks, das vorgeladen wurde und durch Gesetze und Erlasse quasi auf Bewährung zwischen Leben und Tod schwebte. Andere wiederum erklommen diese Stufen mit
geschäftiger Miene, energischen Schrittes und mit im Wind wehender schwarzer Robe.
Aber die meisten stiegen ernst und feierlich hinauf, um in den Gerichtssaal zu gehen.
Und schließlich bewegte sich um diese Uhrzeit auf dieser Treppe eine bunte Menge aus Menschen, die wahrscheinlich genau wie Angélique auf etwas wartete. Vagabunden, die nach einem Schlafplatz suchten, wären erst gar nicht auf das von Gittern umgebene Gelände des Justizpalasts eingelassen worden. Er war eine Stadt innerhalb der Stadt, aber darin spielte jedermann seine Rolle; auch das Publikum, das durch den Eingang am Hof der Sainte-Chapelle kam, um durch die Galerien zu flanieren oder bei den Verhandlungen zuzusehen.
Der abgelegene Winkel, in dem die Buchhändler eifersüchtig ihren Schatz aus Büchern hüteten, bot eine beinahe tröstliche Zuflucht. Angélique nahm wieder auf dem Schemel Platz, auf dem sie schon ein paar Stunden zuvor gesessen hatte, und ihr Gastgeber, den ein leichter Dunst unbekannter Kräuteraufgüsse umgab, betrachtete mit einem leisen, zufriedenen Lächeln einen Gegenstand, den er in der Hand hielt.
»Ich habe Euch den Sänger geschickt«, sagte er. »Hat er Eure Aufregung ein wenig gelindert?«
Sein leicht spöttischer und lässiger Ton machte Angélique nervös.
»Ihr versteht nicht, Monsieur. Sagt mir etwas Tröstliches. Ich möchte wissen, warum dieser unheimliche Mensch mich verfolgt. Hattet Ihr mir nicht einst geweissagt, auf mir liege ein Fluch, der mein Leben belaste?«
»Wir kommen gleich darauf. Jetzt habe ich das, was ich dazu brauche, in der Hand.«
Er hielt ihr die Hand entgegen, und sie schrie auf.
»Oh! Das ist ja ein Porträt meiner Mutter!«
»Ihr erkennt sie? Das ist gut.«
Dann erklärte er, ohne auf ihre Verblüffung
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