Angélique - In den Gassen von Paris
schwer, sich der Schönheit der Sainte-Chapelle zu entziehen, die sich schlank und golden erhob und mit ihrer Präsenz den Hof erfüllte. Von unten konnte man sie bewundern und zu den Fenstern hinaufsehen, die wie Fontänen aufsprangen und einen tags wie nachts zum Himmel hinaufzogen.
Nachdem sich Angélique auf dem ersten Hof umgesehen hatte, suchte sie nach dem Laden von Maître Ludovicus, dessen seltsame und exotische Waren – Horn vom Einhorn, Elefantenstoßzähne oder Straußeneier – sie einst fasziniert hatten. Da sie ihn nicht entdeckte, erkundigte sie sich. Man erklärte ihr, Maître Ludovicus habe sich entschieden, nur noch mit Büchern zu handeln, und sei in die weitab gelegene Umgebung der Conciergerie abgewandert, den Quai de l’Horloge, und sei in der sogenannten Galerie des Prisonniers zu finden.
Angélique durchschritt also die berühmte lange Mercière-Galerie, die sich langsam belebte. So eilig hatte sie es, an ihr Ziel zu gelangen, dass sie kaum auf die verlockenden
Waren achtete, die hier angeboten wurden: Spitzen, Schmuck, Fächer, Luxusgegenstände und Tand aller Art.
Gegenüber, auf der andere Seite des Weges, den sie entlanglief, standen Steinbänke, von denen man hätte meinen können, das Gericht vermiete sie für teures Geld; denn Advokaten, Schreiber und Richter in schwarzen Roben und weißen Beffchen stellten sich dort mit ihren Akten zur Schau – anders konnte man es nicht bezeichnen – und redeten und debattierten. Oft stand noch ein mehr oder weniger gründlich gefesselter Klient dabei, der von einem Gardisten bewacht wurde.
Angélique bog in die Galerie des Prisionniers ein.
Zögernd bahnte sie sich einen Weg durch diese neue Galerie mit dem finsteren Namen »Galerie der Gefangenen«. Hier war die Kundschaft eine ganz andere als in der malerischen Mercière-Galerie. Unter den Liebhabern schöner und alter Bücher traf man kaum Frauen an, dafür Staatsbeamte, Professoren oder gebildete Bürger, größtenteils in Schwarz gekleidet, die sich mit der Miene einer Katze vor einer Schale Milch über Blätterstapel oder aufgeschlagene Bücher beugten. Sie waren so von ihrer Leidenschaft besessen, dass sie kaum darauf achteten, den Gefangenen Platz zu machen, die man, begleitet von Hellebardenträgern und oft mit eisernen Fußfesseln, durch die Galerie zur Conciergerie führte. Angélique sah auch einige Frauen, die von Nonnen, die den Hospitaliterinnen von der heiligen Katharina angehörten und in den Gefängnissen tätig waren, geführt oder gestützt wurden. Sie kannte deren Tracht, in die sie sich hatte kleiden müssen, um ohne erkannt zu werden am Prozess gegen ihren Mann teilzunehmen. 12 Angélique, deren Hände sich in
den Ausschnitt ihres Umhangs krampften, um die Kälte abzuwehren, die sie mit einem Mal überkam, suchte unter den Läden, die alle verkündeten, hier logiere der »Bibliothekar des Königs«, nach dem von Maître Ludovicus.
Endlich entdeckte sie in einer Auslage, die ein wenig zurücklag, einen Gegenstand, an den sie sich erinnerte – das Horn vom Einhorn –, und ein Glücksgefühl stieg in ihr auf.
Erinnerungen waren das, nostalgische Erinnerungen an kleine blaue Büchlein! 13 Aus ihnen hatte sie gelernt, dass das Einhorn, ein mythisches Tier – von dem es heißt, es hatte nie existiert –, ein ganz reizendes Wesen war, eine weiße Stute mit leichtem, beinahe schwebendem Schritt, die, wenn sie anhielt, um einem die Ehre zu erweisen, unendlich anmutig den Kopf neigte, an dem ein Horn aus rosafarbenem Elfenbein saß.
Und die Kinder in den Schlössern träumten im Halbschlaf von dem Einhorn, das in sanftem Galopp auf sie zulief und vor dem Hintergrund der Wiesen weiß wie Mondlicht schimmerte …
»Ich habe auf Euch gewartet«, sagte eine Stimme aus dem Dunkel heraus.
Da erkannte sie den Mann, der sie einst angesprochen hatte, als sie eines Abends mit dem Advokaten Desgrez hier gewesen war.
Angélique hatte, insgeheim erleichtert, die Suche nach ihm aufgeben wollen, doch jetzt war sie so verblüfft, dass ihr nicht einmal eine Grußformel einfallen wollte, um ihn anzusprechen.
Er bedeutete ihr, sich auf die andere Seite der Auslage zu setzen, wo ein Schemel stand. Sie ließ sich darauf sinken und begann, ohne jede Einleitung, ihm vom Grund ihres Hierseins zu erzählen. Da war dieses Individuum, ganz sicher ein Dämon, das in der besten Zeit ihres gemeinsamen Lebens aufgetaucht war, um ihr Glück zu zerstören, und eine Folge
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