Angélique - In den Gassen von Paris
wie schlafende Vulkane sind und die jemand kennen muss, der die Verantwortung für ein Volk und seine Geschichte übernimmt.
Er braucht sie nicht mehr.
Er ist bereit.
In den Wohnräumen des Kardinals betet Pater Bissaro. Er ist Theatiner, gehört also diesem Orden an, der 1524 durch Kajetan von Thiene und Pietro Carafa begründet wurde. Letzterer sollte ihr erster Vorsteher sein, nachdem er Erzbischof von Theatinum gewesen war und bevor er unter dem Namen Paul IV. Papst werden sollte. Man hatte den Orden in dem Gedanken gegründet, die Sitten der Geistlichen zu verbessern, und ihnen sogar das Betteln verboten. Für ihren Unterhalt durften sie nur freiwillige Gaben annehmen. Sie predigten, besuchten Kranke und standen den zum Tode Verurteilten und den Sterbenden bei. Papst Paul IV. rief das oberste Tribunal der römischen Inquisition an, das auf seinen Vorschlag hin den Index schuf, auf den verbotene Bücher gesetzt werden.
Der Italiener Giulio Mazarini, der die Theatiner sehr schätzte, hat sie nach Paris geholt. Sie besitzen ein Haus am Quai Malacais.
Pater Bissaros Taschen sind noch voll von Klage- und Bittschriften, mit denen man ihn jedes Mal, wenn er in Vincennes eintrifft, überhäuft. Sobald die Menschen sein langes schwarzes Gewand und seine weißen Strümpfe erblicken, bestürmen sie ihn, und der Theatiner wehrt sich nach besten Kräften. Vergeblich hat er daran erinnert, dass man ihn für eine äußerst ernste Aufgabe nach Vincennes gerufen
hat. Der Kardinal selbst hat ihm den Auftrag erteilt, ihn auf den Tod vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass er die letzte Schwelle des Lebens als guter Christ überschreitet.
Aber darum flehten die Bittsteller nicht weniger und hielten ihm vor, er müsse seinen reuigen Sünder anhalten, großmütige Werke zu tun, der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen und Wiedergutmachung zu leisten …
Noch in seinen letzten Stunden ist seine Eminenz allmächtig.
Noch liegt die Macht in seinen mageren, zum Beten gefalteten Händen.
Allen Ersuchen, die der Theatiner ihm vorgelegt hat, hat er entsprochen. Und er hat sie selbst unterzeichnet.
Doch was nun? Der Kardinal lebt nicht mehr.
Eine Macht ist erloschen.
Was soll jetzt geschehen? An wen soll man sich wenden?
»An mich, Monsieur Erzbischof«, antwortete am nächsten Morgen Ludwig XIV., als er im Vorzimmer auf den Präsidenten des Rats der Geistlichkeit traf, der ihn fragte, an wen er sich in Zukunft mit den Fragen wenden solle, die für gewöhnlich der Kardinal entschieden hatte.
»Es wird keinen Premierminister geben… keinen allmächtigen Favoriten … Der Staat bin ich, Messieurs.«
Der König befahl, vierzig Stunden lang zu beten, und legte Tauerkleidung an. Der Hof musste es ihm nachtun. Das ganze Königreich murmelte vor den Altären Gebete für den verhassten Italiener, und zwei Tage lang läuteten in Paris ununterbrochen die Totenglocken.
Eines Tages sollte der König in seinen Memoiren schreiben: »Ein Kardinal, der mich liebte und den ich liebte …«
Dann, nachdem Ludwig XIV., der sich vorgenommen hatte, in Zukunft nicht mehr so empfindsam zu sein, die letzten Tränen seines jungen Herzens vergossen hatte, ging er an die Arbeit.
Bei Hof lächelte man skeptisch. Der König hatte einen Plan aufgestellt, in dem Stunde für Stunde seine Tätigkeiten verzeichnet waren. Bälle und Mätressen, natürlich, aber vor allem Arbeit, konzentrierte, unablässige, gewissenhafte Arbeit. Man schüttelte den Kopf. Das würde nicht von Dauer sein, hieß es.
Es sollte fünfzig Jahre währen.
Kapitel 4
D urch Barcaroles Erzählungen erfuhr man auch auf dem anderen Seine-Ufer, bei den Gaunern in der Tour de Nesle, was der König tat. Der Zwerg war stets gut über alle Vorgänge bei Hof informiert. Gelegentlich zog er sich ein Narrenkostüm aus dem sechzehnten Jahrhundert mit Schellen und Federn an und arbeitete als Türöffner bei einer der bedeutendsten Wahrsagerinnen von Paris.
»Die schönen Damen, die sie aufsuchen, können sich ruhig maskieren oder Schleier tragen, ich erkenne sie alle …«
Er nannte Namen und lieferte derart viele Einzelheiten, dass Angélique, die diese Damen alle gekannt hatte, nicht daran zweifelte, dass die strahlendsten Sterne aus der Umgebung des Königs in der Tat häufig den dubiosen Schlupfwinkel dieser Hellseherin aufsuchten.
Diese Frau hieß Catherine Mauvoisin und hörte auf den Beinamen La Voisin. Barcarole behauptete, sie sei beeindruckend und vor allem
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