Angélique - In den Gassen von Paris
Bewohner der Île de la Cité gezwungen waren, in Booten durch die Straßen zu fahren, konnten das Wasser so weit ansteigen lassen, dass es diese unterirdischen Verliese erreichte und die Leichen herausspülte.
»Woher weißt du das alles?«, wurde die Polackin gefragt. »Man könnte meinen, ein Wiedergänger hätte dir das alles anvertraut …«
Vielleicht war es ja ein vom Glück begünstigter Mensch gewesen – warum auch nicht? –, der auf seinem Weg durch den Keller sah, wie sein Vorgänger durch die Klappe verschwand. Möglich, dass er stehen geblieben war, im Namen Gottes um Gnade gebettelt hatte und verschont worden war … So etwas kommt vor.
Um diesem Albtraum zu entkommen, flüchtete sich Angélique in einfache Tätigkeiten, die sie zum Ritual gemacht
hatte. So fand sie zu einem gewissen inneren Gleichgewicht.
Doch die stumpfe Zufriedenheit, die ihr die selbst auferlegten Aufgaben, wie die Gemüsesuppe zu kochen, gaben, war bedroht, denn oft musste sie feststellen, dass der Nachschub an Gemüse mager war. Die Zahl ihrer »kleinen Soldaten«, wie Cul-de-Bois sie spöttisch lachend nannte, schrumpfte. Vergeblich suchte sie unter dem Menschengewimmel der verschiedenen Gäste, die die großen Räume im unteren Teil der Tour de Nesle füllten, nach bekannten Gesichtchen. Wenn sie feststellte, dass eines der Kinder fehlte, brachte sie es nur mit Mühe fertig, sich eine Frage zu stellen und sich selbst zu beantworten. So etwas geschah immer dann, wenn ein Mann, der zum Hof der Wunder von Rolin le Trapu gehörte und Jean-Pourri hieß, den Bewohnern der Tour de Nesle einen Besuch abstattete. »Ohne eingeladen zu sein«, bemerkte die Polackin, die ihn wie auch viele andere nicht leiden konnte.
Angélique konnte diesem schändlichen Kerl nicht begegnen, ohne dass es ihr kalt über den Rücken lief.
Wenn sich der kleine blasse Mann, der trübe Augen wie ein toter Fisch hatte, durch die schief hängende Tür des Saals drückte, zitterte sie. Eine Schlange hätte ihr keine größere Angst einjagen können.
Jean-Pourri handelte mit Kindern. Irgendwo in Faubourg Saint-Denis, direkt im Stammrevier des Großen Coesre, stand ein baufälliges Lehmhaus, von dem sogar die hartgesottenen Gauner nur mit leiser Stimme sprachen. Tag und Nacht hörte man dort das Weinen der unschuldigen, gequälten Kinder. Dort drängten sich Findelkinder und Kinder, die man gestohlen hatte. Den Schmächtigeren verbog man die Gliedmaßen, um sie an Bettler zu vermieten, die sie
benutzten, um das Mitleid der Passanten zu erwecken. Die Hübschesten dagegen, Knaben und Mädchen gleichermaßen, wurden sorgfältig aufgezogen und noch ganz jung an lasterhafte hohe Herren verkauft, die sie im Voraus reservierten, um an ihnen ihre abscheulichen Begierden zu erfüllen. Das größte Glück hatten noch die Kinder, die von unfruchtbaren Frauen erworben wurden, die begierig waren, in ihrem Haushalt ein Kinderlächeln zu sehen, oder die einen besorgten Gatten zufriedenstellen mussten. Wieder andere holten sich, indem sie einen falschen Nachkommen vorwiesen, ein Erbe zurück.
Gaukler und Schausteller kauften gesunde Kinder für ein paar Sols, die sie dann für Auftritte dressierten.
Um diese bedauernswerte Ware drehte sich ein gewaltiger, unaufhörlicher Handel. Die kleinen Opfer starben zu Hunderten. Nachschub gab es ständig. Jean-Pourri war unermüdlich. Er suchte die Ammen auf, schickte seine Leute aufs Land, sammelte verlassene Kinder ein, bestach Dienerinnen in öffentlichen Krippen und Waisenhäusern oder stahl den Savoyern oder Auvergnern, die nach Paris gekommen waren, um als Kaminkehrer oder Schuhputzer zu arbeiten, die Kinder, auf dass sie für immer verschwanden.
Paris hatte sie verschluckt, so wie es alle Schwachen verschlang, die Armen, die Einsamen, die unheilbar Kranken, die Invaliden, die Alten, die Soldaten ohne Pension, die Bauern, die der Krieg von ihrem Land vertrieben hatte, oder Kaufleute, die sich ruiniert hatten.
All diese Menschen zog die Gaunerzunft an ihre ekelhafte Brust und zeigte ihnen ihre speziellen Berufe, die über Jahrhunderte hinweg Gestalt angenommen hatten.
Die einen lernten, Fallsüchtige zu spielen, und die anderen das Stehlen. Greise und Greisinnen konnte man mieten,
damit sie einen Trauerzug größer erscheinen ließen. Die jungen Mädchen prostituierten sich, und die Mütter verkauften ihre Töchter. Oft bezahlte ein hoher Herr eine Gruppe von gedungenen Mördern, damit sie einen seiner Feinde
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