Angélique - In den Gassen von Paris
an irgendeiner Straßenecke umbrachten. Oder man kam an den Hof der Wunder, um sich das Personal für einen Aufruhr zu suchen, der in einer Hofintrige der einen Seite den Sieg bringen sollte. Die Gauner wurden bezahlt, damit sie schrien und Beleidigungen riefen, und sie erledigten begeistert ihre Aufgabe. Schon manch ein Minister hatte sich von drohenden, zerlumpten Gestalten eingekreist gesehen, die ihn fast in die Seine geworfen hätten, und hatte daraufhin dem Druck seiner Rivalen nachgegeben.
Am Vorabend kirchlicher Feiertage kam es vor, dass man Geistliche sah, die sich heimlich in die gefährlichsten Gauner-Schlupfwinkel schlichen. Am nächsten Tag würde man die Heiligenschreine von Sainte Opportuna oder Saint Marcel durch die Straßen tragen. Die Chorherren des Kapitels wünschten, dass ein Wunder zur rechten Zeit den Glauben der Menge stärkte. Und wo konnte man wundersame Heilungen besser finden als am Hof der Wunder? Gut bezahlt postierten sich der falsche Blinde, der falsche Taube und der falsche Lahme am Weg der Prozession, um dann mit einem Mal ihre Heilung zu verkünden und Freudentränen zu vergießen.
Wer hätte behaupten können, die Bürger des Königreichs von Tunis lebten im Müßiggang und dass für sie alles einfach war?
Hatte Beau-Garçon nicht alle Hände voll mit seinem Bataillon von Huren zu tun? Gewiss, sie brachten ihm ihre Einnahmen, aber musste er nicht ihre Querelen schlichten
und die feinen Kleider stehlen, die sie für ihren Beruf brauchten?
La Pivoine, Gobert und allen ehemaligen Soldaten geschah es oft, dass die Nacht kalt und das Wild rar waren.
Wie viele Stunden muss man lauern, bis man jemandem den Mantel herunterreißen kann, und was für ein Geschrei und einen Radau das gibt!
Und ist das wirklich so lustig, dass man sich, wenn man zu denen gehört, die falsche Krankheiten vortäuschen, mit Seifenschaum vor dem Mund und umgeben von dummen Schaulustigen auf dem Boden wälzen muss?
Vor allem aber erwartet einen am Ende des Weges nur der Tod; ein einsames Ende im Schilf an einem Flussufer oder, schlimmer noch, die Folter in den Gefängnissen des Châtelet, diese Folter, die einem die Nerven zerreißt und die Augen aus den Höhlen treten lässt. Und dann das Schafott auf dem Place de Grève und der Tod am Galgen, den man im Königreich Tunis die »Abtei Monte-à-Regret« nennt, die »Abtei zur ewigen Reue«.
April 1661
U nd doch führte Angélique, geschützt durch Calembredaine und ihre Freundschaft mit Cul-de-Bois, im Königreich Tunis ein freies und zugleich behütetes Leben.
Sie war unantastbar. Indem sie die Gefährtin eines Gauners geworden war, hatte sie ihren Tribut entrichtet. Die Gesetze der Gaunerzunft sind hart. Jedermann wusste, dass Calembredaine eifersüchtig und gnadenlos war, und Angélique konnte mitten in der Nacht mit ungehobelten, gefährlichen Männern wie La Pivoine oder Gobert zusammen sein und musste nicht die kleinste Anzüglichkeit befürchten.
Da spielte es keine Rolle, ob es sie nach ihr gelüstete oder nicht; solange ihr Anführer sein Verbot nicht aufhob, gehörte sie ausschließlich ihm.
So bestand ihr Leben, das äußerlich gesehen so elend war, fast vollständig daraus, dass sie lange schlief, melancholisch vor sich hinsinnierte und ziellos durch Paris lief. Für sie gab es immer etwas zu essen, und in der Tour de Nesle brannte stets Feuer im Kamin.
Sie hätte sich sogar anständig kleiden können, denn oft brachten die Diebe schöne Kleider mit, die nach Iris und Lavendel dufteten. Aber ihr lag nichts daran. Sie trug immer noch dasselbe Kleid aus braunem Serge, dessen Rocksaum inzwischen abgetreten war, und dieselbe Leinenhaube bedeckte ihr Haar. Dazu hatte die Polackin ihr einen besonderen Gürtel geschenkt, mit dem sie ihr Messer unter ihrem Mieder verbergen konnte.
»Wenn du willst, bringe ich dir auch bei, wie man es benutzt«, hatte sie vorgeschlagen.
Seit dem Vorfall mit der Zinnkanne und dem erstochenen Büttel brachten die beiden einander eine gewisse Achtung entgegen, fast so etwas wie Freundschaft.
Bei Tag ging Angélique selten aus und entfernte sich nie weit von ihrem Schlupfwinkel. Instinktiv übernahm sie den Lebensrhythmus ihrer Gefährten, denen Bürger, Händler und Büttel in stillschweigendem Einvernehmen die Nacht überließen.
Der Magister führte sie abermals zu einem Spaziergang aus. Er erklärte, sein Leben sei in Gefahr, und sie sei die Einzige, der er seine Geheimnisse anvertrauen könne.
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