Angélique - In den Gassen von Paris
Sie sollte alles wissen für den Fall, dass ihm eines Tages etwas zustoße.
Dieses Mal ließen sie die Tour de Nesle weit hinter sich und überquerten die Brücken. Nachdem der Magister zunächst
eine tragische Miene aufgesetzt hatte, schien er von kindlicher Freude erfüllt zu sein und verkündete, er habe eine Überraschung für sie. Dies war eine Nacht, wie die Gauner sie für ihre Unternehmungen lieben, sehr dunkel, aber immer wieder ein wenig durch eine Mondsichel erhellt, die zwischen den Wolken hindurchschien.
Angélique erlebte tatsächlich eine Überraschung, aber es war nicht die, die sich der Alte vorgestellt hatte, denn sie erkannte mit einer gewissen Aufregung, dass sie sich auf der Straße auf dem Pont Notre-Dame befand. Sie war dabei gewesen, als man sie für den triumphalen Einzug des Königs nach Paris schmückte. Beide Straßenseiten waren von Büsten aus falscher, angemalter Bronze gesäumt gewesen, die alle Könige Frankreichs darstellten; von Faramund, den man als den ersten Anführer der Franken betrachtete, bis Ludwig XIV., der einige Tage später durch diese Straße ziehen sollte. Und einen dieser Könige wollte der Magister ihr zeigen, denn man hatte sowohl die Büsten als auch die Blumen und Früchte tragenden Frauenstatuen an ihrem Platz gelassen.
Der Magister hatte eine Laterne mitgebracht, die er jetzt anzündete. Hier und da brannten ein paar Öllämpchen, die ebenfalls ein wenig Helligkeit verbreiteten. Er erklärte Angélique, diese Straße werde bei Nacht überwacht, damit die schönste Brücke von Paris und der ganzen Welt bei Nacht nicht zu einer gefährlichen Ecke wurde. In regelmäßigen Abständen gingen zwei Büttel vom Châtelet vorüber.
»Da ist er«, erklärte er ehrfürchtig, »der König, der schuld daran ist, dass ich zum Tode verurteilt worden bin. Dagobert II.«
Er verstummte, woraufhin ein bleiernes Schweigen eintrat. Angélique stellte ihm eine Frage, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen.
»Ist das der, der in dem Grab lag?«
Der Magister zuckte zusammen und wirkte so empört wie ein Prüfer, dem ein Schüler eine falsche Antwort gibt.
»Aber nein! Der in dem Grab war Chilperich I., der Sohn von Chlothar I., den man auch den Großen nannte.«
»Warum sagt Ihr dann, dass dieser Dagobert II. schuld daran sei, dass Ihr zum Tode verurteilt worden seid?«
»Weil ich ihn ersetzen wollte. Ich habe ihn unter die Könige von Frankreich gestellt, an den Platz, der ihm zusteht. Nachdem ich viele, viele Jahre geforscht hatte, besaß ich den Beweis für seine Existenz und seine Herrschaft. Dagobert, der ermordete König… verschwunden… ausgelöscht.«
Er unterbrach sich und schaute sich besorgt um.
»Verdrücken wir uns lieber, ehe die Büttel kommen!«
Rasch hatten sie erneut die Gegend der Tour de Nesle erreicht.
Der Magister fuhr fort.
»Vergiss nicht, wo er steht. Es ist die Büste unterhalb des Hauses, das in goldenen Buchstaben mit der Nummer sechsundzwanzig bezeichnet ist.«
Dann hielt er Angélique in einer benachbarten dunklen Gasse fest, in der sein aufmerksamer Blick keinen Wachposten entdeckte, und sprach halblaut weiter.
»Dein Hirn ist jetzt vom Unglück vernebelt, aber du hast ein gutes Gedächtnis und nimmst die ernsten Dinge auch ernst. Wenn du der Gaunerzunft einmal entkommen bist, vergiss nicht, was ich dich gelehrt habe.«
»Nicolas sagt, dass man der Gaunerwelt niemals entkommt.«
»Das gilt für diejenigen, die nichts mehr zu retten haben. Dies ist der Sumpf, in dem sie versinken und sterben werden;
wenn nicht vor Hunger, dann an ihrer Lebensuntüchtigkeit. Aber für andere ist diese Welt die unterste Stufe, das tiefste Gewölbe, das Versteck, in dem ihre Feinde nie auf die Idee kämen, sie zu suchen.«
»Wer würde denn darauf verfallen, sich an einem so entsetzlichen Ort zu verstecken?«
»Du, zum Beispiel. Ho, hi! Oder ich … Oder der Gräber, der die zwei Goldmünzen gestohlen hat, hi, hi!«
Wenn er zu seinen Reden anhob, fühlte Angélique sich verwirrt von seinen unzusammenhängenden Erzählungen, die er im ernsten Ton eines Dozenten vorzutragen versuchte. Unwillkürlich spitzte sie die Ohren und versuchte zu verstehen. Sein Beiname, Magister oder auch Maître, bezeichnete im Allgemeinen die Universitätsdozenten mittleren Ranges, die alles Mögliche unterrichteten oder Repetitorien abhielten, ohne sich jedoch für eine bestimmte Materie auszuweisen und darin als Gelehrte auszuzeichnen.
»Er ist Professor unter
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