Angélique - In den Gassen von Paris
und jetzt muss ich mich noch von einer Landstreicherin, einer Herumtreiberin, einer Zigeunerin beschimpfen lassen…«
Angélique hatte ihr gar nicht zugehört, sondern war ins Haus gelaufen.
Sie schnappte sich ein Geschirrtuch, das vor dem Kamin hing, nahm Cantor und band ihn sich auf den Rücken, indem sie das Tuch vor ihrer Brust verknotete. Genauso trugen die Zigeunerinnen ihre Kinder.
»Was habt Ihr vor?«, verlangte die Amme, die ihr nachgegangen war, zu wissen. »Ihr wollt die Kinder doch nicht
etwa mitnehmen, oder? Wenn, dann müsst Ihr mir Geld geben.«
Angélique durchwühlte ihre Taschen und warf ein paar Münzen auf den Boden. Spöttisch lachte die Bauersfrau auf.
»Fünf Livres! Willst du dich über mich lustig machen? Ihr steht bei mir mit dreihundert Livres in der Kreide. Also rück das Geld heraus, sonst rufe ich die Nachbarn, damit sie ihre Hunde auf dich hetzen.«
Groß und vierschrötig stand sie in der Tür und versperrte ihr mit ausgestreckten Armen den Weg. Angélique griff in ihr Mieder und zog ihren Dolch. Im Halbdunkel blitzte Rodogones Klinge ebenso wie die grünen Augen der Frau, die sie hielt.
»Mach dich dünne«, forderte Angélique sie mit dumpfer Stimme auf. »Mach dich dünne, oder ich stech dich ab.«
Als die Bäuerin die Ausdrücke der Gaunersprache vernahm, erbleichte sie. Vor den Toren von Paris wusste man nur allzu gut, wie verwegen diese Gaunerdirnen waren und wie geschickt sie das Messer zu handhaben wussten.
Entsetzt wich sie zurück, Angélique trat an ihr vorbei und zielte mit der Messerspitze auf die Frau, wie die Polackin es sie gelehrt hatte.
»Ruf nicht um Hilfe! Und hetz mir weder Hunde noch Bauernlümmel auf die Fersen, sonst stößt dir etwas zu. Morgen wird dein Hof brennen … Und du wirst mit aufgeschlitzter Kehle erwachen … Hast du verstanden?« Als sie mitten auf dem Hof stand, steckte sie den Dolch in den Gürtel, nahm Florimond auf den Arm und flüchtete nach Paris.
Keuchend rannte sie auf die menschenverschlingende Hauptstadt zu, wo sie für ihre beiden halb verhungerten
Kinder keine andere Zuflucht hatte als Ruinen und das unheimliche Wohlwollen von Bettlern und Räubern.
Vorbeifahrende Kutschen wirbelten Staub auf, der auf ihrem schweißnassen Gesicht festklebte. Doch sie spürte das Gewicht ihrer zweifachen Bürde kaum und gönnte sich keine Rast.
Das wird vorübergehen, dachte Angélique. Das muss ein Ende haben. Eines Tages werde ich entkommen und die beiden wieder in die Welt der Lebenden führen …
In der Tour de Nesle traf sie auf die Polackin, die ihren Rausch ausschlief. Sie half ihr, die Kinder zu versorgen.
Als er die Kleinen erblickte, wurde Calembredaine weder zornig noch eifersüchtig, wie sie befürchtet hatte. Doch sein grobschlächtiges, dunkles Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an.
»Bist du verrückt geworden?«, fuhr er sie an. »Bist du wahnsinnig, dass du deine Kinder herbringst? Hast du nicht gesehen, wie man hier mit Kindern umspringt? Willst du sie zum Betteln vermieten? Sollen die Ratten sie fressen, oder soll Jean-Pourri sie dir stehlen?«
Bestürzt über diese unerwarteten Vorhaltungen klammerte sie sich an ihn.
»Wohin soll ich sie denn bringen, Nicolas? Sieh doch, was aus ihnen geworden ist… Sie mussten hungern! Ich habe sie nicht hierher gebracht, damit man ihnen etwas tut, sondern um sie unter deinen Schutz zu stellen. Du bist doch so stark, Nicolas.«
Verzweifelt schmiegte sie sich an ihn und sah ihn an, wie sie es noch nie getan hatte. Aber er bemerkte es gar nicht, sondern schüttelte nur den Kopf.
»Ich kann sie nicht immer beschützen … diese Kinder sind von adligem Blut. Dazu bin ich nicht in der Lage.«
»Warum nicht? Du bist stark, und man fürchtet dich.«
»So stark bin ich nun auch wieder nicht. Du hast meinem Herzen schwer zugesetzt. Und Leute wie wir fangen an, dumme Fehler zu begehen, wenn das Herz im Spiel ist. Dann geht alles den Bach hinunter. Manchmal wache ich nachts auf und sage mir: Sieh dich vor, Calembredaine … So weit ist es nicht mehr bis zur Abtei Monte-à-Regret …«
»Rede nicht so, wenn ich dich ein einziges Mal um etwas bitte. Nicolas, mein Nicolas, hilf mir, meine Kinder zu retten!«
Bald nannte man die beiden die »kleinen Engel«. Unter Calembredaines Schutz teilten sie Angéliques Leben inmitten von Elend und Verbrechen. Sie schliefen in einem großen Lederkoffer, der mit dicken Mänteln und feinen Stoffen ausgelegt war. Jeden Morgen
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