Angélique - In den Gassen von Paris
bekamen sie ihre frische Milch. Um ihretwillen lauerten Rigobert oder La Pivoine den Bäuerinnen auf, die, ihre Kupferkannen auf dem Kopf, zum Markt von Pierre-au-lait gingen. Schließlich mochten die Milchfrauen den Weg an der Seine entlang gar nicht mehr einschlagen, und die Männer mussten bis nach Vaugirard gehen, um sie abzufangen. Doch schließlich begriffen sie, dass sie sich mit einem Topf Milch freikaufen konnten, und die alten Soldaten brauchten nicht einmal mehr ihr Schwert zu ziehen.
Florimond und Cantor hatten Angéliques Herz wieder zum Leben erweckt.
Gleich nach ihrer Rückkehr aus Neuilly brachte sie die beiden zum Großen Matthieu. Sie wollte eine Salbe für Cantors Schrunden, und für Florimond … Ja, was konnte man tun, um ihn zurück ins Leben zu holen, dieses kleine, ausgemergelte
Bübchen, das zitterte und sich panisch zurückzog, wenn man es streichelte?
»Als ich ihn zurückgelassen habe, konnte er sprechen«, vertraute sie der Polackin an, »und jetzt sagt er kein Wort mehr.«
Die Polackin begleitete sie zum Großen Matthieu. Für die beiden hob er den roten Vorhang, der seine Bühne in zwei Abteilungen teilte, und bat sie wie Damen in sein Privatkabinett, in dem ein unbeschreibliches Durcheinander aus Gebissen, Suppositorien, Skalpellen, Puderdosen, Stieltöpfen sowie Straußeneiern und zwei ausgestopften Krokodilen herrschte.
Höchstpersönlich trug der große Meister eine Salbe aus eigener Fertigung auf Cantors Haut auf und versprach, in acht Tagen werde nichts mehr zu sehen sein. Er sollte recht behalten: Die Krusten fielen ab, und zum Vorschein kam ein rundliches, friedliches Kind mit heller Haut und kräftig gelocktem, kastanienbraunem Haar, das vollständig gesund war.
Was Florimond anging, wusste der Große Matthieu weniger Gutes zu vermelden. Sehr vorsichtig nahm er das Kind, untersuchte es, scherzte mit ihm und gab es dann Angélique zurück. Dann rieb er sich ratlos das Kinn. Angélique war vor Sorge mehr tot als lebendig.
»Was ist mit ihm?«
»Nichts. Er muss essen. Wenig zu Beginn, und später so viel er kann. Vielleicht bekommt er so ein bisschen Fleisch auf die Knochen.«
»Als ich ihn zurückgelassen habe, konnte er sprechen und laufen«, meinte sie betrübt. »Und jetzt sagt er kein Wort mehr und kann sich kaum auf den Beinen halten.«
»Wie alt war er, als du er von dir getrennt wurde?«
»Zwanzig Monate, nicht ganz zwei Jahre also.«
»Das ist ein schlechtes Alter, um leiden zu lernen«, sagte der Große Matthieu nachdenklich. »Wenn schon, muss es früher geschehen, gleich nach der Geburt. Oder später. Aber diese Kleinen, die gerade erst beginnen, das Leben zu verstehen, dürfen nicht so grausam vom Schmerz überwältigt werden.«
Aus ihren Augen, in denen unvergossene Tränen schimmerten, sah Angélique zum Großen Matthieu auf. Sie fragte sich, woher dieser gewöhnliche, großsprecherische Kerl sich mit so zarten Empfindungen auskannte.
»Wird er sterben?«
»Vielleicht nicht.«
»Gebt mir trotzdem eine Medizin.«
Der Quacksalber schüttete ein Kräuterpulver in eine Tüte und empfahl, dem Kind täglich eine Abkochung davon zu trinken zu geben.
»Dadurch wird er zu Kräften kommen«, erklärte er.
Weiter äußerte er sich nicht, obwohl er sonst dazu neigte, sich wortreich über die Wirkung seiner Heilmittel auszulassen.
Er überlegte ein Weilchen und ergriff dann erneut das Wort.
»Was er braucht, ist eine lange Zeit, in der er nie mehr Hunger leidet, nie mehr friert, keine Angst zu haben braucht und sich nicht verlassen fühlt; und er sollte stets dieselben Gesichter um sich sehen… Das, was er braucht, ist eine Medizin, die ich nicht in meinen Töpfen habe. Er muss glücklich sein. Hast du mich verstanden, Mädchen?«
Angélique nickte. Sie war verblüfft und aufgewühlt. Noch nie hatte jemand mit ihr auf diese Weise über Kinder gesprochen.
In der Welt, in der sie einst gelebt hatte, war das einfach nicht üblich. Aber vielleicht hatten ja die einfachen Leute größere Einsichten in gewisse Dinge …
Ein Patient, der ein Taschentuch um seine dicke Wange gewickelt hatte, war auf die Bühne gestiegen, und das Orchester hatte wieder zu lärmen begonnen. Der Große Matthieu schob die beiden Frauen nach draußen und klopfte ihnen jovial auf den Rücken.
»Versucht, ihn zum Lächeln zu bringen«, rief er ihnen noch nach, bevor er nach seiner Zange griff.
Seitdem gaben sich in der Tour de Nesle alle die größte Mühe,
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