Angélique - In den Gassen von Paris
Hof, Männer hatten vor gar nichts Achtung.
Die Rue de la Vallée-de-Misère lag unmittelbar hinter dem Châtelet, nur ein paar Schritte weit weg. Ohne auch nur einmal den Schritt zu verlangsamen, erreichte Angélique den Kecken Hahn, durchquerte den Gastraum und trat in die Küche.
Barbe war noch auf und rupfte einen alten Hahn. Angélique stieß ihr das Kind geradezu in die Arme.
»Das ist Cantor«, erklärte sie keuchend. »Pass auf ihn auf, beschütze ihn. Versprich mir, dass du ihn unter keinen Umständen im Stich lässt.«
Die friedliche Barbe drückte mit einer einzigen Bewegung den Säugling und das Federvieh an die Brust.
»Ich verspreche es, Madame.«
»Aber wenn Meister Bourjus zornig wird…«
»Dann soll er doch schreien, Madame. Ich werde ihm sagen, das Kind sei meines, und dass ein Musketier es mir gemacht hat.«
»Gut. Und jetzt, Barbe …«
»Madame?«
»Nimm deinen Rosenkranz.«
»Ja, Madame.«
»Und fang an, für mich zur Jungfrau Maria zu beten …«
»Ja, Madame.«
»Hast du Branntwein, Barbe?«
»Ja, Madame, dort auf dem Tisch …«
Angélique ergriff die Flasche, setzte sie an und trank einen Schluck. Sie hatte das Gefühl, gleich auf dem Steinboden zusammenzubrechen, und musste sich auf den Tisch stützen. Doch kurz darauf konnte sie wieder klar denken und spürte, wie eine angenehme Wärme sich in ihrem Inneren ausbreitete.
Barbe starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.
»Madame … Wo sind denn Eure Haare geblieben?«
»Woher soll ich wissen, wo mein Haar ist?«, gab Angélique bissig zurück. »Ich habe anderes zu tun, als danach zu suchen.«
Festen Schrittes ging sie zur Tür.
»Wohin wollt Ihr, Madame?«
»Ich gehe Florimond holen.«
Kapitel 11
A n der Ecke eines aus Strohlehm errichteten Hauses thronte die Statue des Gottes der Gaunerzunft; eine aus der Kirche Saint-Pierre-aux-Bœufs entwendeten Gottvaterfigur. Lästerungen und obszöne Sprüche waren die Gebete, die seine Gläubigen an ihn richteten.
An dieser Figur vorbei drang man durch ein Gewirr übler, stinkender Gassen in das Reich der Nacht und des Schreckens ein. Die Gottvater-Statue bezeichnete die Grenze, die ein einzelner Polizist oder Büttel nicht überschreiten durfte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen. Auch die ehrbaren Leute wagten sich nicht in diese Gegend. Was hätten sie auch in diesem namenlosen Viertel zu suchen gehabt, wo schwarze, halb zusammengefallene Häuser, wacklige Hütten, alte Kutschen, Karren und Lastkähne Tausenden Familien als Unterkunft dienten? Diese Menschen waren ebenfalls namenlos und ohne Wurzeln und hatten keine andere Zuflucht als die der Gaunerzunft.
Die tiefe Dunkelheit und Stille machten Angélique klar, dass sie in das Reich des Großen Coesre eingedrungen war. Die Gesänge aus den Tavernen waren weit hinter ihr zurückgeblieben, und hier gab es keine Schenken, Laternen oder Lieder mehr.
Nichts als das Elend in Reinzustand mit seinem Dreck, seinen Ratten und streunenden Hunden …
Angélique war einmal bei Tag mit Calembredaine in diesem eigentlich zum Faubourg Saint-Denis gehörenden Viertel gewesen. Er hatte ihr den Sitz des Großen Coesre gezeigt, ein eigentümliches Haus mit mehreren Stockwerken, das einmal ein Kloster gewesen sein musste, denn in dieser Ansammlung von Erde, alten Brettern, Kieseln und Steinen, die man aufgeschüttet hatte, damit das Gebäude nicht zusammenbrach, waren noch Glockentürmchen und die Überreste eines Kreuzgangs zu erkennen. Überall abgestützt, krumm und schief mit seinen Bögen und Spitzbogenfenstern, reckte es überheblich seine Türmchen wie Schmuckfedern und war ein ganz und gar angemessener Palast für den König der Gauner.
Dort lebte der Große Coesre mit seinem Hof, seinen Frauen, seinen Gehilfen und seinem Narren. Und hier war es auch, wo Jean-Pourri unter den Fittichen des großen Meisters seine Ware – gestohlene Kinder, ob ehrbar oder illegitim –zwischenlagerte.
Seit sie dieses unheimliche Viertel betreten hatte, suchte Angélique nach diesem Haus. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Florimond dort war. Im Schutz der vollkommenen Finsternis wanderte sie dahin. Die Gestalten, denen sie begegnete, interessierten sich nicht für diese zerlumpte Frau, die genauso aussah wie die anderen Bewohner dieser trübsinnigen Bruchbuden. Und wenn man sie angesprochen hätte, wäre sie in der Lage gewesen, keinen Argwohn zu erwecken, denn sie kannte inzwischen die Sprache und die Sitten der Unterwelt
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