Angélique - In den Gassen von Paris
wenn man keine mehr hat.
»Nein, ich bin die Marquise der Engel.«
»Ach, du bist das«, rief das junge Mädchen entzückt. »Ich habe so viel von dir gehört. Stimmt es, dass Calembredaine gehenkt worden ist?«
»Ich habe keine Ahnung, Rosine. Sieh mal, wir befinden uns in einem sehr einfachen und ehrbaren Zimmerchen. An der Wand hängen ein Kruzifix und ein Weihwasserbecken. Wir wollen von all dem nicht mehr sprechen.«
Sie zog ein Hemd aus grobem Stoff an, einen Rock und ein Mieder aus dunkelblauem Serge, die auch auf dem Karren gelegen hatten. Angéliques zarte Gestalt schwamm beinahe in den formlosen und groben Kleidern, aber zumindest waren sie sauber. Zutiefst erleichtert warf sie ihre alten Lumpen zu Boden.
Aus der Schatulle, die sie zusammen mit dem Affen Piccolo in der Rue du Val-d’Amour abgeholt hatte, nahm sie einen Spiegel. In der Schachtel befanden sich alle möglichen interessanten Gegenstände, an denen sie hing, darunter auch ein Schildpattkamm, mit dem sie durch ihr Haar fuhr. Mit ihrem kurzen Haar hatte sie das Gefühl, in das Gesicht einer Fremden zu sehen.
»Hat die Polente dir das Fell geschoren?«, erkundigte sich Rosine.
»Ja … Pah, das wächst wieder. Herrje, Rosine, was habe ich denn da?«
»Wo denn?«
»In meinem Haar. Schau doch.«
Rosine sah nach.
»Das ist eine weiße Haarsträhne«, erwiderte sie.
»Weißes Haar«, wiederholte Angélique entsetzt. »Aber das ist doch nicht möglich. Ich … gestern war das noch nicht da, ganz bestimmt nicht.«
»Dann ist es einfach so gekommen. Vielleicht heute Nacht?«
»Ja, heute Nacht.«
Angélique zitterten die Beine, und sie musste sich auf Barbes Bett setzen.
»Rosine … heißt das etwa, dass ich alt werde?«
Das junge Mädchen ging vor ihr auf die Knie und betrachtete sie ernst. Dann strich sie ihr über die Wange.
»Ich glaube nicht. Du hast keine Falten, und deine Haut ist glatt.«
Angélique frisierte sich, so gut es eben ging, und versuchte, die unselige weiße Strähne unter den anderen Haaren zu verbergen. Dann band sie sich ein schwarzes Baumwolltuch um den Kopf.
»Wie alt bist du, Rosine?«
»Ich weiß es nicht. Vierzehn vielleicht oder fünfzehn.«
»Jetzt erinnere ich mich auch an dich. Ich habe dich eines Nachts auf dem Friedhof der Unschuldigen Kinder gesehen. Du bist mit bloßen Brüsten im Zug des Großen Coesre gegangen. Und es war Winter. Hast du nicht schrecklich gefroren, so halbnackt?«
Rosine sah aus ihren großen dunklen Augen, in denen ein leiser Vorwurf lag, zu ihr auf.
»Du hast selbst gesagt, dass wir nicht mehr darüber sprechen sollten.«
In diesem Moment trommelten Flipot und Linot an die Tür und kamen vergnügt herein. Barbe hatte ihnen heimlich eine Pfanne, ein Stück Speck und einen Topf mit Teig zugesteckt. Sie würden Pfannkuchen backen.
An diesem Abend gab es in Paris bestimmt keinen Ort, an dem es fröhlicher zuging als in diesem kleinen Zimmer in der Rue de la Vallée-de-Misère. Angélique machte die Pfannkuchen, und Linot kratzte auf Thibault-le-Vielleurs Leier. Die Polackin hatte das Instrument an einer Straßenecke gefunden und es dem Enkel des alten Musikanten gebracht. Niemand wusste, was bei der großen Prügelei aus dem Alten geworden war.
Ein wenig später kam Barbe mit ihrem Kerzenleuchter herauf. Sie erklärte, in der Bratküche sei kein Gast mehr gewesen, und Meister Bourjus habe verärgert die Tür abgeschlossen. Um dem Unglück des Bratkochs noch die Krone aufzusetzen, hatte man ihm die Uhr gestohlen. Kurz gesagt, Barbe hatte früher als üblich Feierabend. Gerade als sie geendet hatte, fiel ihr Blick auf eine seltsame Ansammlung von Gegenständen auf der hölzernen Truhe, in der sie ihre Kleider verwahrte.
Da waren zwei Tabakreiben, ein leinener Geldbeutel mit einigen Écus darin, Knöpfe, ein Haken, und in der Mitte …
»Aber… das ist ja Meister Bourjus’ Uhr«, sagte sie verblüfft.
»Flipot!«, rief Angélique.
Flipot setzte eine angemessen beschämte Miene auf.
»Ja, das war ich«, erklärte er stolz. »Als ich wegen des Pfannkuchenteigs in die Küche gegangen bin …«
Angélique packte ihn am Ohr und schüttelte ihn gehörig durch.
»Wenn du wieder mit dem Beutelschneiden anfängst, du Früchtchen, dann setze ich dich vor die Tür, und du kannst gern zu Jean-Pourri zurückgehen!«
Betrübt legte der Knabe sich zum Schlafen in einer Zimmerecke nieder und war bald eingeschlummert. Linot tat es ihm nach. Dann streckte sich Rosine auf
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