Angélique - In den Gassen von Paris
findest?«, wollte Linot wissen.
»Er wird euch nicht finden. Ich werde euch alle beschützen«, erklärte Angélique.
Rosine deutete auf eine schwache Morgenröte weit hinter der Straße, in der die Laternen verblassten.
»Schau doch, die Nacht ist vorüber.«
»Ja, die Nacht ist vorüber«, wiederholte Angélique heftig.
Jeden Morgen wurde im Kloster Saint-Martin-des-Champs Suppe an die Armen ausgegeben. Die feinen Damen, die an der Frühmesse teilgenommen hatten, unterstützten die Nonnen bei diesem wohltätigen Werk.
Die Armen, die oft nur eine Straßenecke zum Schlafen hatten, fanden im großen Refektorium vorübergehend ein wenig Ruhe. Jeder erhielt eine Schale mit heißer Brühe und ein rundes Brot.
Dort fand sich Angélique ein, die Florimond auf dem Arm trug und von Rosine, Linot und Flipot gefolgt wurde. Alle fünf wirkten verstört und waren mit Schmutz und Unrat bedeckt.
Zusammen mit einer Gruppe anderer Elendsgestalten ließ man sie ein, und sie nahmen auf Bänken an Holztischen Platz.
Dann brachten Bedienstete große Schüsseln mit Brühe herbei.
Die Suppe duftete appetitlich. Doch ehe Angélique aß, wollte sie Florimond zu trinken geben.
Behutsam hielt sie dem Kind die Schale an die Lippen.
Jetzt erst konnte sie ihn in dem schwachen Licht, das durch ein Buntglasfenster hereinfiel, richtig erkennen. Seine Augen waren halb geschlossen, und die Nase wirkte spitz. Er atmete rasch, als sei sein Herz von den erlittenen Schrecken so überanstrengt, dass es nicht zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Teilnahmslos ließ er die Brühe aus dem Mund laufen. Doch die warme Flüssigkeit munterte ihn auf. Er schluckte und streckte dann selbst die Hände nach der Schale aus, um endlich begierig zu trinken.
Angélique betrachtete das kleine, abgehärmte Gesicht unter den dunklen, verfilzten Haaren.
Das also, sagte sie sich, hast du aus dem Sohn von Joffrey de Peyrac gemacht, dem Erben der Grafen von Toulouse, dem Kind der Blumenspiele, das für das Licht und die Freude geboren ist!
Sie erwachte wie aus einer langen Erstarrung und betrachtete ihr furchtbares, zerstörtes Leben, und mit einem Mal wurde sie von einem heftigen Zorn gegen sich selbst und die ganze Welt ergriffen. Nach dieser entsetzlichen
Nacht hätte sie eigentlich völlig erschöpft und leer sein müssen, doch stattdessen stieg eine wundersame Kraft in ihr auf.
Nie mehr, sagte sie sich, nie mehr soll er hungern … Nie mehr soll er frieren … Und er soll sich nie mehr fürchten. Das schwöre ich.
Aber warteten auf der anderen Seite des Klosterportals nicht gerade Hunger, Kälte und Furcht auf sie alle?
Ich muss etwas unternehmen. Sofort.
Angélique schaute sich um. Sie war nur eine dieser zerlumpten Mütter, dieser Armen, die keine Rechte hatten und zu denen sich juwelenbehängte Damen aus Wohltätigkeit herabneigten, bevor sie wieder zu dem leeren Geschwätz ihrer »ruelles« – der literarischen Zirkel, die sie in ihren Salons abhielten – und ihren Hofintrigen zurückkehrten.
Einen Spitzenschal über das Haar gebreitet, um das Aufblitzen von Perlen zu verbergen, und eine Schürze vor ihre Kleider aus Samt und Seite gesteckt, gingen sie von einem zum anderen. Eine Zofe folgte ihnen mit einem Korb, aus dem die Damen Kuchen, Früchte und manchmal auch Pasteten oder halbe Hühner zogen, die Speisereste von den Tafeln der Adligen.
»Oh, meine Liebe«, meinte eine von ihnen, »es ist sehr mutig von Euch, dass Ihr Euch in Eurem Zustand so früh am Tag an der Armenspeisung beteiligt. Gott wird Euch dafür segnen.«
»Das hoffe ich, meine Teure.«
Das leise Lachen, das auf diese Worte folgte, kam Angélique bekannt vor. Sie sah auf und erkannte die Gräfin de Soissons, der die rothaarige Bertille soeben einen Umhang
aus pflaumenblauer Seite hinhielt. Die Gräfin hüllte sich fröstelnd hinein.
»Es ist nicht nett von Gott, dass er die Frauen zwingt, neun Monate lang die Frucht eines einzigen Augenblicks der Lust in ihrem Schoß zu tragen«, meinte sie zu der Äbtissin, die sie zur Tür begleitete.
»Was bliebe denn noch für die Nonnen, wenn auf der Welt nur eitel Freude herrschen würde?«, erwiderte die Ordensfrau lächelnd.
Angélique sprang auf und reichte ihren Sohn an Linot weiter.
»Pass auf Florimond auf«, bat sie.
Aber der Kleine klammerte sich schreiend an sie, sodass sie ihn widerstrebend bei sich behielt.
»Bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle«, befahl sie den
Weitere Kostenlose Bücher