Angélique - In den Gassen von Paris
Florimond und Cantor hütete. Barbe war im Erdgeschoss, und die Knaben
waren »spazieren gegangen«, was in der Gaunersprache hieß, dass sie zum Betteln unterwegs waren.
»Ich will nicht, dass sie betteln«, erklärte Angélique kategorisch.
»Du willst nicht, dass sie stehlen, und du willst nicht, dass sie betteln. Was sollen sie denn deiner Meinung nach anfangen?«
»Arbeiten.«
»Aber das ist doch Arbeit«, protestierte das Mädchen.
»Nein. Und jetzt hinaus! Hilf mir, die Kleinen in die Küche hinunterzubringen. Du wirst auf sie aufpassen und Barbe zur Hand gehen.«
Beruhigt ließ sie ihre zwei Söhne in diesem weitläufigen, warmen und von köstlichen Küchendünsten erfüllten Reich zurück. Das Feuer im Kamin brannte hell. Sie sollen nie wieder frieren oder hungern, sagte sich Angélique ein weiteres Mal. Herrje, dazu konnte ich wirklich nichts Besseres tun, als sie in eine Bratküche zu bringen!
Florimond trug ein Kleidchen aus graubraunem Etamine-Stoff, ein gelbes Oberteil und dazu eine Schürze aus grünem Serge. Das Häubchen auf seinem Kopf war ebenfalls aus grünem Serge gefertigt. Diese Farben ließen sein ohnehin zartes Gesichtchen noch kränklicher erscheinen. Sie fühlte ihm die Stirn und legte die Lippen an sein kleines Handgelenk, um festzustellen, ob er Fieber hatte. Doch er schien wohlauf zu sein, wenn auch ein wenig launisch und mürrisch. Cantor unterhielt sich seit dem Morgen damit, die Windeln herunterzureißen, mit denen Rosine ihn – im Übrigen ziemlich ungeschickt – zu wickeln versucht hatte. In dem Korb, in dem er lag, zappelte er jetzt nackt wie ein Engelchen herum und versuchte herauszuklettern, um nach den Flammen zu haschen.
»Dieses Kind ist nicht richtig großgezogen worden«, meinte Barbe besorgt. »Hat man ihm überhaupt Arme und Beine mit Binden gewickelt, wie es sich gehört? So wird er sich später nicht gerade halten können und wird womöglich bucklig.«
»Im Moment wirkt er für ein Kind von neun Monaten ziemlich kräftig«, bemerkte Angélique und bewunderte die wohlgerundeten Hinterbacken ihres Jüngsten.
Aber Barbe konnte sich nicht beruhigen. Es bereitete ihr Sorgen, dass Cantor sich so frei bewegen konnte.
»Sobald ich eine Minute Zeit habe, werde ich Binden aus Scharpie zuschneiden, um ihn fest zu umwickeln. Aber heute Morgen kommt das nicht in Frage. Meister Bourjus scheint irgendwie wütend zu sein. Stellt Euch vor, Madame, er hat mir befohlen, den Boden zu schrubben und die Tische zu wachsen. Außerdem soll ich zum Temple laufen, um weiche Kreide zum Polieren des Zinngeschirrs zu kaufen. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht …«
»Dann bitte doch Rosine, dir zu helfen.«
Nachdem sie in ihrer kleinen Welt alles geordnet hatte, schlug Angélique fröhlich den Weg zum Pont-Neuf ein.
Die Blumenhändlerin erinnerte sich nicht an sie. Angélique sah sich genötigt, ihr den Tag, an dem sie ihr beim Sträußebinden geholfen und an dem sie ihr Komplimente gemacht hatte, in allen Einzelheiten zu schildern.
»He, wie hätte ich dich auch wiedererkennen sollen?«, rief die gute Frau aus. »An jenem Tag hattest du Haare, aber keine Schuhe. Heute hast du Schuhe, aber keine Haare mehr. Na, wenigstens hoffe ich, dass deine Hände noch dieselben sind, oder? Komm, setz dich doch zu uns. So kurz vor Allerheiligen mangelt es uns nicht an Arbeit. Bald werden
die Friedhöfe und Kirchen mit Blumen übersät sein, gar nicht zu reden von den Bildern der Toten.«
Angélique setzte sich unter den roten Sonnenschirm und machte sich gewissenhaft und geschickt an die Arbeit.
Sie sah nicht von ihrem Werk auf, denn sie fürchtete, am Horizont des Flusses die alte Silhouette der Tour de Nesle zu erblicken oder unter den Passanten auf dem Pont-Neuf einen von Calembredaines Bettlern zu erkennen. Aber auf dem Pont-Neuf war es an diesem Tag ruhig.
Nicht einmal die laute, durchdringende Stimme des Großen Matthieu war zu hören, denn zu dieser Zeit war er mit seinem Karren, der ihm zugleich als Bühne diente, und seinem Orchester auf den Jahrmarkt von Saint-Germain gezogen, von dem man noch nicht wusste, ob er wieder zu seiner üblichen fröhlichen Geschäftigkeit zurückgefunden hatte.
Der Pont-Neuf erlebte so etwas wie ein ruhiges Zwischenspiel: weniger Spaziergänger, weniger Schausteller, weniger Bettler. Angélique war froh darüber.
Die Blumenhändlerinnen unterhielten sich über die Schlacht auf dem Jahrmarkt von Saint-Germain. Offenbar wusste
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