Angerichtet
sie einmal einer Meinung. »Ein Meisterwerk«, sagte sie. »Echt, ihr müsst ihn euch wirklich auch ansehen.«
Worauf Claire geantwortet hatte, dass wir ihn bereits gesehen hatten. »Vor zwei Monaten«, hatte ich noch hinzugefügt, was eigentlich eine überflüssige Bemerkung war, aber ich hatte einfach Lust, es zu sagen. Es zielte nicht gegen Babette, sondern gegen meinen Bruder, ich wollte ihm zeigen, dass er sich mit seinen Meisterwerken ziemlich im Rückstand befand.
Da waren mehrere Mädchen mit schwarzen Bistroschürzen und unseren Vorspeisen aufgetaucht, in ihrem Gefolge der Maître d’hôtel mit dem Spreizfinger, und wir hatten den Faden verloren – bis Babette ihn mit ihrer Frage, ob wir ihn nun gesehen hatten oder nicht, den neuen Woody Allen, wieder aufgenommen hatte.
»Ich fand den Film großartig«, sagte Claire und rührte eine »Sonnentomate« durch die Olivenölpfütze auf ihrem Teller, um sie dann zum Mund zu führen. »Sogar Paul fand ihn gut. Stimmt’s, Paul?«
So etwas macht Claire öfter: mich irgendwo so mit hineinziehen, dass mir keine Wahl bleibt. Jetzt wussten die anderen, dass ich ihn gut fand, und dieses »sogar Paul« bedeutete ungefähr »sogar Paul, dem normalerweise kein einziger Film gefällt, ganz zu schweigen von einem Woody-Allen-Film«.
Serge sah mich an, irgendetwas von seiner Vorspeise befand sich noch in seinem Mund, er kaute darauf herum, was ihn aber keineswegs daran hinderte, das Wort an mich zu richten. »Nicht wahr, ein Meisterwerk? Also, wirklich fantastisch.« Er kaute weiter und schluckte etwas hinunter. »Und diese Scarlett Johansson, die würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen. Meine Herren, eine echte Schönheit!«
Wenn ein Film, den man selbst ziemlich gut findet, vom eigenen älteren Bruder als Meisterwerk bezeichnet wird, dann fühlt sich das an, als müsse man die abgelegten Kleider dieses Bruders tragen: die getragene Kleidung, die dem älteren Bruder inzwischen zu klein geworden ist, aber aus der eigenen Perspektive vor allem eins ist: getragen. Mir blieb keine Wahl: entweder ich stimmte zu, dass Woody Allens Film ein Meisterwerk war, was dem Tragen abgelegter Kleidung gleichkäme und damit von vornherein ausgeschlossen war; eine Steigerung von »Meisterwerk« gab es nicht, ich konnte also höchstens den Versuch unternehmen und beweisen, dass Serge den Film nicht verstanden hatte, dass er den Film aus den falschen Gründen als Meisterwerk bezeichnete, doch das wäre eine ziemliche Rackerei, zudem viel zu durchschaubar, insbesondere für Claire und bestimmt auch für Babette.
Eigentlich blieb mir nur eine Möglichkeit: den Film von Woody Allen ordentlich niederzumachen, was ziemlich einfach war, denn der Film hatte genügend Schwächen. Schwächen, die einem bei einem Film, der einem gut gefällt, wenig ausmachen, die man in einer Notsituation aber durchaus ins Feld führen kann, um damit denselben Film schlechtzumachen. Claire würde zunächst die Augenbrauen hochziehen und dann hoffentlich verstehen, was ich gerade tat: dass der Verrat unseres gemeinsamen Filmgutfindens im Dienste des Kampfes gegen pseudointellektuelles Geschwafel über Filme im Allgemeinen stand.
Ich griff nach meinem Chablisglas mit der Absicht, erst einmal nachdenklich einen Schluck zu trinken, bevor ich zu meinem eben genannten Plan überginge, doch da fiel mir noch ein anderer Ausweg ein. Was hatte der Arsch da eben eigentlich von sich gegeben? Das da über Scarlett Johansson? »Nicht von der Bettkante stoßen (…) eine echte Schönheit« –ich wusste, was Babette von diesen flotten Männersprüchen hielt, auch Claire regte sich immer gleich auf, wenn Männer von »geilen Ärschen« und »prima Titten« sprachen. Ich hatte ihre Reaktion nicht mitbekommen, als mein Bruder vorhin das mit der Bettkante gesagt hatte, weil ich in dem Moment gerade ihn angesehen hatte, aber eigentlich brauchte ich das auch gar nicht.
In letzter Zeit hatte ich manchmal das Gefühl, dass ihm allmählich die Realität abhandenkam, dass er allen Ernstes glaubte, alle Scarlett Johanssons dieser Welt würden zu ihm ins Bett hüpfen wollen. Ich hatte den leichten Verdacht, dass ihm an Frauen genauso wenig lag wie am Essen – Hauptsache sie standen zu seiner Verfügung. Das war bereits früher so gewesen und so ist es auch bis heute geblieben. »Ich habe Hunger«, sagt Serge, wenn er Hunger hat. Das sagt er auch, wenn man irgendwo in der Prärie durch die Natur wandert oder sich gerade auf der
Weitere Kostenlose Bücher