Angerichtet
beiden weißen Mäuse und die Stabheuschrecken, die ihnen vorausgegangen waren. Was wir aus dieser hohen Sterberate lernen sollten, wurde in der Klasse nicht durchgenommen.
Die Antwort auf die Frage, weshalb ich einen Teller mit warmem Ziegenkäse und Feldsalat vor mir stehen hatte, obwohl ich beides gar nicht mochte, war weniger rätselhaft, als man meinen sollte. Als unsere Bestellungen aufgenommen wurden, war ich als Letzter an der Reihe gewesen. Wir hatten zuvor nicht richtig besprochen, was wir nehmen würden – oder vielleicht doch, aber dann war mir das entgangen. Wie dem auch sei, jedenfalls hatte ich mir das Vitello tonnato ausgesucht, doch zu meinem Schrecken war Babettes Wahl auf dasselbe Gericht gefallen.
Das war ja nicht weiter schlimm, ich konnte noch schnell auf meine zweite Wahl zurückgreifen: Flusskrebse. Doch als Vorletzter, direkt nach Claire, war Serge an der Reihe gewesen. Und als Serge dann Flusskrebse bestellte, befand ich mich in der Zwickmühle. Ich hatte sowieso nicht dieselbe Vorspeise wie einer der anderen nehmen wollen, aber dieselbe Vorspeise wie mein Bruder zu nehmen, das war vollkommen ausgeschlossen. Rein theoretisch hätte ich noch zu meinem Vitello tonnato zurückgekonnt, aber eigentlich nur rein theoretisch. Das machte sich nicht so gut: abgesehen davon, dass ich damit zeigte, noch nicht einmal so originell zu sein, mir ein hundertprozentig eigenes Gericht auszuwählen, könnte bei Serge die Vermutung aufkommen, ich wolle mit seiner Frau ein Bündnis schließen. Das stimmte zwar, doch so offensichtlich sollte es nicht sein.
Ich hatte die Speisekarte bereits zugeklappt und nebenmeinen Teller gelegt. Jetzt schlug ich sie erneut auf und ging blitzschnell die Vorspeisen durch. Ich täuschte einen nachdenklichen Blick vor, als würde ich nur nach dem von mir ausgewählten Gericht suchen, um es auf der Karte anzuzeigen, aber natürlich war es schon längst zu spät.
»Und was darf es für den Herrn sein?«, fragte der Maître d’hôtel.
»Für mich den geschmolzenen Ziegenkäse mit Feldsalat«, sagte ich.
Es klang eine Spur zu flink, ein wenig zu selbstsicher, um auch glaubwürdig zu klingen. Für Serge und Babette war nichts Ungewöhnliches vorgefallen, doch auf der anderen Seite des Tischs konnte ich das Erstaunen in Claires Gesicht ablesen.
Würde sie mich vor mir selbst schützen wollen? Würde sie »Aber du magst doch gar keinen Ziegenkäse!« sagen? Ich wusste es nicht. In diesem Moment waren zu viele Augen auf mich gerichtet, um ihr mit einem Kopfschütteln ein Nein zuzuwerfen, aber ich konnte jetzt unmöglich ein Risiko eingehen.
»Ich habe gehört, der Ziegenkäse kommt hier von einem Biohof mit Streichelzoo«, sagte ich. »Von kleinen Ziegen, die die ganze Zeit draußen herumhüpfen.«
Endlich, nachdem der Maître d’hôtel sich noch unnötig lang mit Babettes Vitello tonnato aufgehalten hatte, dem Vitello tonnato, das in einer idealen Welt mein Vitello tonnato hätte sein können, war der Maître d’hôtel abgezogen und wir konnten unser Gespräch wieder aufnehmen. »Aufnehmen« war eigentlich nicht die richtige Bezeichnung, denn keiner von uns schien sich überhaupt noch daran erinnern zu können, worüber wir uns vor dem Eintreffen der Vorspeisen unterhalten hatten. Das passiert in sogenannten Toprestaurants öfter, als es einem lieb ist. Man verliert vollkommen den Faden durchdie ewigen Unterbrechungen, wie zum Beispiel der viel zu ausführlichen Erläuterung jedes einzelnen Pinienkerns auf dem Teller, dem endlosen Öffnen von Weinflaschen und dem passenden oder unpassenden Nachschenken des Weins, ohne dass man darum gebeten hätte.
Zu diesem Nachschenken will ich noch das Folgende sagen: Ich bin viel auf der Welt herumgekommen, habe in vielen Ländern Restaurants besucht, aber nirgendwo – und ich meine mit nirgendwo wirklich n-i-r-g-e-n-d-w-o – wird einem Wein nachgeschenkt, ohne dass man darum gebeten hätte. In anderen Ländern empfindet man das als unhöflich. Nur in den Niederlanden stehen sie alle naslang am Tisch und schenken einem nicht nur nach, sondern werfen zudem noch einen stirnrunzelnden Blick auf die Flasche, wenn sie allmählich zur Neige geht. »Wird es nicht allmählich Zeit, eine neue zu bestellen?«, lautet der stille Vorwurf.
Ich kenne jemand, einen Freund von früher, der einige Jahre in den Niederlanden in sogenannten »Toprestaurants« gearbeitet hat. Eigentlich, so erzählte er einmal, dient diese Taktik nur dazu, dass man
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