Angerichtet
weißt du, bei wem es passiert ist?« Die Freundin oder der Freund würden ihr offenes Haar betrachten und »Nein, keineAhnung, bei wem denn?« sagen. Um den Effekt zu steigern, würde das Mädchen einen Moment warten und dann sagen: »Bei Serge Lohman!« »WEM?« »Serge Lohman! Dem Minister! Vielleicht ist er gerade kein Minister, aber du weißt schon, wen ich meine, er war gestern noch in den Nachrichten, der, der die Wahl gewinnen wird. Das war alles so blöd, und dann habe ich auch noch einer Frau, die bei ihm mit am Tisch saß, den Ellenbogen gegen den Kopf gerammt. »Ach, der … oh Mann! Und dann?« »Na, nichts, er war sehr nett, aber ich hätte im Boden versinken können!«
Sehr nett … Ja, sehr nett war Serge gewesen, nachdem er mit dem Stuhl einen halben Meter nach hinten gerückt war, den Kopf erhoben und das Mädchen zum ersten Mal angesehen hatte. Ich konnte beobachten, wie sich sein Gesichtsausdruck in einer mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbaren hundertsten Sekunde veränderte: von gespielter Empörung und Verletztheit über den ungeschickten Umgang mit seinem Chablis zu einer bereits versöhnlichen Freundlichkeit. Kurz: wie er schmolz. Die Ähnlichkeit mit der von uns soeben besprochenen Scarlett Johansson konnte auch ihm nicht entgangen sein. Er sah »ein Schnittchen«, ein errötendes, unbeholfenes Schnittchen, das seiner Gnade restlos ausgeliefert war. Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. »Aber das macht doch nichts«, sagte er. Und er hob sein Glas, wobei ein ordentlicher Schuss auf seinen Teller mit den Flusskrebsen schwappte. »Das wird schon leer.«
»Verzeihung!«, sagte das Mädchen noch einmal.
»Kein Grund zur Aufregung. Wie alt bist du? Darfst du schon wählen?«
Zuerst habe ich geglaubt, ich hätte mich verhört. Wurde ich wirklich Zeuge dieser Peinlichkeit? Doch genau in diesem Moment drehte mein Bruder mir den Kopf halb zu und zwinkerte auffällig.
»Ich bin neunzehn.«
»Na, wenn du dann bei den anstehenden Wahlen deine Stimme der richtigen Partei gibst, dann werden wir bei deinen Einschenkkünsten ein Auge zudrücken.«
Das Mädchen lief erneut rot an, ihre Gesichtsfarbe wurde noch intensiver – und zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hatte ich das Gefühl, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Ich warf Babette schnell einen Blick zu, doch bei ihr wies nichts darauf hin, dass sie das Verhalten ihres Ehemannes tadelte. Im Gegenteil, es schien sie zu amüsieren: der landesweit bekannte Politiker Serge Lohman, Spitzenkandidat der mächtigsten Oppositionspartei, haushoher Favorit für das Amt des Ministerpräsidenten, flirtete öffentlich mit einer neunzehnjährigen Bedienung und brachte sie zum Erröten. Vielleicht war das ja nett, vielleicht wurde so sein unwiderstehlicher Charme wieder einmal bestätigt, oder vielleicht fand Babette es einfach toll, dass sie die Frau eines Mannes wie meinem Bruder war. Im Auto, auf dem Weg hierhin oder auf dem Parkplatz hatte er sie zum Weinen gebracht. Doch was bedeutete das eigentlich? Würde sie ihn nun plötzlich im Stich lassen, nach achtzehn Ehejahren? Ein halbes Jahr vor den Wahlen?
Ich versuchte noch, mit Claire Blickkontakt aufzunehmen, aber sie interessierte sich mehr für Serges übervolles Glas und das Gestammel der Bedienung. Sie befühlte kurz an ihrem Hinterkopf die Stelle, an der der Ellenbogen des Mädchens sie getroffen hatte – wer weiß, vielleicht war es härter gewesen, als es ausgesehen hatte, und dann fragte sie: »Fahrt ihr in diesem Sommer wieder nach Frankreich? Oder habt ihr noch keine Pläne?«
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12
Serge und Babette besaßen ein Haus in der Dordogne, wo sie jedes Jahr mit den Kindern hinfuhren. Sie zählten zu der Sorte Niederländer, die alles superb fanden, was Französisch war: von Croissants bis hin zu Baguette mit Camembert, von französischen Autos (sie fuhren selbst einen Peugeot der gehobenen Klasse) bis zu französischen Chansons und französischen Filmen. Dabei ignorierten sie standhaft, dass die dort ansässigen Franzosen einen Hass auf die Niederländer hatten. Auf jedes zweite Haus der Dordogne waren Anti-Niederländer-Parolen geschmiert, doch laut meinem Bruder handelte es sich dabei um Taten einer » zu vernachlässigenden Minderheit« – in den Geschäften waren sie doch alle freundlich zu ihnen.
»Äh, das hängt noch davon ab«, sagte Serge. »Es ist noch nicht ganz sicher.«
Vor einem Jahr waren wir zum ersten Mal dort gewesen, zu dritt, auf dem Weg nach
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