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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Michel zu der Bande zählte, und mein Sohn, der sich so offenbar schuldig zeigte – diese unselige Verbindung der Begebenheiten sorgte dafür, dass bei mir unwillkürlich ein Schalter umgelegt wurde.
    »Ach, halt doch endlich das Maul«, sagte ich.
    Der Fahrradhändler hinter seiner Verkaufstheke tat zunächst, als habe er sich verhört. »Was haben Sie bitte gesagt?«, fragte er.
    »Du hast mich sehr genau verstanden, du Arsch. Ich kam mit meinem Sohn hierher, um die Scheißscheibe zu ersetzen, und nicht, um mir dein ätzendes Palaver über Fußball spielende Kinder anzuhören. Worum geht es hier eigentlich, du Arschgesicht? Um eine kaputte Fensterscheibe. Das gibt dir noch lange nicht das Recht, einen achtjährigen Jungen so anzupöbeln. Ich kam hierher, um den Schaden zu begleichen, aber jetzt bezahle ich nichts mehr. Kannst dir ja überlegen, wie du an das Geld kommst.«
    »Hören Sie mal, ich lasse mich hier nicht von Ihnen beleidigen«, sagte er und machte Anstalten, hinter der Theke hervorzukommen. »Diese Rabauken haben mir die Scheibe zerstört, und nicht ich.«
    In der Nähe der Theke stand eine Stehfahrradpumpe, ein klassisches Modell mit Ständer, bei dem die Pumpe an einem Holzbrett festgeschraubt ist. Ich bückte mich und griff nach der Pumpe.
    »Du bleibst besser, wo du bist«, sagte ich ganz ruhig. »Bis jetzt ist es nur eine Fensterscheibe.«
    Irgendetwas lag in meiner Stimme, daran kann ich mich jetzt noch erinnern, es bewirkte jedenfalls, dass der Fahrradhändler innehielt und dann einen Schritt zurückmachte und wieder hinter der Theke verschwand. Ich hatte tatsächlich außergewöhnlich ruhig geklungen. Ich war nicht durchgedreht, die Hand, mit der ich die Pumpe festhielt, zitterte überhaupt nicht. Der Fahrradhändler hatte mich gesiezt, ich sah vielleicht wie ein Herr aus, war aber keiner.
    »Jetzt aber mal ganz mit der Ruhe«, sagte er. »Wir wollen hier doch jetzt keine Dummheiten anstellen, oder?«
    Ich spürte Michels Hand um meine Finger. Er drückte sie erneut, fester als die Male zuvor. Ich drückte zurück.
    »Was kostet die Fensterscheibe?«
    Er blinzelte. »Ich bin versichert«, sagte er. »Es ist nur so, dass –«
    »Das habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt, was sie kostet.«
    »Hundert … hundertfünfzig Gulden. Zweihundert alles zusammen, mit Arbeitslohn und so weiter.«
    Um das Geld aus der Hosentasche zu fischen, musste ich Michels Hand loslassen. Ich schleuderte zwei Hunderter auf die Theke.
    »Das war’s«, sagte ich. »Deswegen kam ich hierher. Und nicht, um mir dein krankes Gewäsch über Fußball spielende Kinder anzuhören.«
    Ich stellte jetzt auch die Fahrradpumpe wieder an ihrenPlatz zurück. Ich fühlte mich erschöpft. Es war dieselbe Mischung aus Erschöpfung und Ärger, wie wenn man einen Tennisball nicht erwischt: Man will ihn schmettern, aber man schlägt voll daneben, Arm und Tennisschläger spüren keinen Widerstand und schlagen ziellos in die Luft.
    Ich wusste es in dem Augenblick genau und weiß es noch heute: Tief in meinem Herzen bedauerte ich es, dass der Fahrradhändler so schnell eingelenkt hatte. Ich glaube, ich hätte mich viel weniger erschöpft gefühlt, wenn ich die Fahrradpumpe hätte einsetzen können.
    »So, das haben wir dann gut hingekriegt, stimmt’s, mein Lieber?«, sagte ich auf dem Heimweg.
    Michel hatte wieder meine Hand genommen, aber er antwortete nicht. Als ich ihn anschaute, konnte ich sehen, dass er Tränen in den Augen hatte.
    »Was ist denn, mein Lieber?«, fragte ich. Ich blieb stehen und ging vor ihm in die Hocke. Er biss sich auf die Lippe und fing erst dann richtig an zu weinen.
    »Michel!«, tröstete ich ihn. »Michel, hör mal, du brauchst nicht traurig zu sein. Der Mann war wirklich ein schlechter Mann. Das habe ich ihm gesagt. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast nur einen Ball in eine Scheibe geschossen. Das war ein Unfall. Unfälle passieren nun mal, aber deswegen darf er nicht solche Sachen über dich sagen.«
    »Mama«, sagte er zwischen den Schluchzern hindurch. »Mama …«
    Ich spürte, wie sich in meinem Innern etwas verkrampfte, oder besser ausgedrückt, wie sich in mir etwas Unvorstellbares und Unbestimmtes ausbreitete: ein Pfahlzaun, Zeltstangen, ein aufgehender Regenschirm. Ich hatte Angst, nicht mehr hochzukommen.
    »Mama? Willst du zu Mama?«
    Er nickte heftig und rieb sich mit der Hand über die tränenfeuchten Wangen.
    »Sollen wir dann schnell zu Mama gehen?«, fragte ich. »Sollen wir Mama alles

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