Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
Vom Netzwerk:
gesehen hatten wie ich. Ich dachte an die Leute aus unserem Viertel, aus unserer Straße: Nachbarn und Ladenbesitzer, die den zwar schweigsamen, aber immer freundlichen Jungen hatten vorbeizockeln sehen, mit einer Sporttasche, einer wattierten Jacke und einer Mütze.
    Zuletzt dachte ich an meinen Bruder. Er zählte nicht gerade zu den Intelligentesten, in gewisser Hinsicht konnte man ihn sogar als etwas zurückgeblieben bezeichnen. Wenn die Meinungsumfragen richtig lagen, dann würde er nach den anstehenden Wahlen als unser neuer Ministerpräsident vereidigt werden. Hatte er auch ferngesehen? Hatte Babette ferngesehen? Für Außenstehende waren unsere Kinder unmöglich allein anhand der gezeigten Bilder der Überwachungskamera zu erkennen, sagte ich mir, aber bei Eltern gab es etwas, das sorgte dafür, dass sie ihr Kind unter tausend anderen Kindern erkannten: ob an einem überfüllten Strand oder auf dem Spielplatz, auf undeutlichen Schwarz-Weiß-Bildern …
    »Michel? Bist du noch wach?« Ich hatte an die Tür geklopft und er hatte geöffnet. »Mensch, Papa!«, rief er erstaunt, als er mein Gesicht sah. »Was ist denn los?«
    Danach war alles ziemlich schnell gegangen, jedenfalls schneller als ich es erwartet hatte. In gewisser Hinsicht schien er sogar erleichtert darüber zu sein, dass es jetzt noch jemanden gab, der eingeweiht war. »Mensch«, sagte er ein paar Mal. »Mensch, eh. Das ist schon echt seltsam, dass wir beide darüber sprechen.«
    Aus seinem Mund klang es so, als sei das einfach etwas ziemlich Seltsames: nicht viel anders, als hätten wir im Detail erörtert, wie man auf dem Schulfest ein Mädchen anbaggert. Im Grunde hatte er ja recht, solche Sachen hatte ich bislang noch nicht mal versuchsweise angesprochen. Merkwürdigerweise hatte ich von Anfang an bei mir selbst eine gewisse Zurückhaltung festgestellt. Als würde ich ihm die Freiheit lassen wollen, mir, seinem Vater, nicht alles erzählen zu müssen, wenn ihm etwas zu peinlich war.
    »Wir konnten das doch nicht wissen«, beteuerte er. »Wie hätten wir wissen können, dass in dem Kanister noch etwas drin war? Er war leer, ich schwör’s, der war leer.«
    Spielte es eine Rolle, dass er und sein Cousin wirklich keine Ahnung davon hatten, dass ein leerer Kanister explodieren kann? Oder stellten sie sich einfach nur dumm bei einer Sache, die eigentlich doch als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf? Gasbildung, Benzindämpfe, nie ein Streichholz in die Nähe eines leeren Kanisters halten – weshalb durfte man denn sonst wohl an der Tankstelle nicht mit dem Handy telefonieren? Wegen der Benzindämpfe und der Explosionsgefahr.
    Stimmt’s?
    Aber das habe ich alles nicht gesagt. Ich bin nicht gegen ihn angegangen, habe nicht versucht, Michels Argumente zu entkräften, mit denen er seine Unschuld zu verteidigen versuchte. Denn wie unschuldig war er eigentlich? Ist man unschuldig, wenn man jemandem eine Schreibtischlampe an den Kopf wirft, und schuldig, wenn man dieselbe Person versehentlich anzündet?
    »Weiß Mama es?« Ja, das hat er gefragt. Damals auch schon.
    Ich schüttelte den Kopf. Und so standen wir uns da in seinem Zimmer eine Weile schweigend gegenüber, beide mit den Händen in der Hosentasche. Ich fragte nicht weiter. Ich fragte ihn zum Beispiel nicht, was nur in ihn gefahren war. Wie er und sein Cousin nur auf die Idee kommen konnten, einer obdachlosen Frau Dinge auf den Kopf zu werfen.
    Zurückblickend bin ich mir sehr sicher, dass ich da, genau in diesem Moment, während der paar Minuten der Stille, als wir dort mit den Händen in der Hosentasche standen, meinenEntschluss gefasst hatte. Ich musste daran denken, wie Michel einmal einen Ball in die Fensterscheibe eines Fahrradladens geschossen hatte. Damals war er acht. Gemeinsam waren wir zu dem Ladenbesitzer gegangen, um ihm anzubieten, den Schaden zu übernehmen. Aber dem Besitzer hatte das nicht gereicht. Er hatte zu einer Tirade angesetzt, gegen »diese Rotzlöffel«, die tagaus, tagein vor seiner Ladentür Fußball spielten und den Ball »absichtlich« gegen die Schaufensterscheiben schossen. Früher oder später ginge er dann durch die Scheibe, sagte er, da könne man die Uhr nach stellen. »Und genau das will diese Bande«, fügte er hinzu.
    Ich hielt Michel an der Hand, während wir dem Fahrradhändler zuhörten. Mein achtjähriger Sohn hielt den Blick gesenkt und starrte schuldbewusst zu Boden, dabei drückte er ab und zu meine Hand.
    Der verärgerte Ladenbesitzer, der

Weitere Kostenlose Bücher