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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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was mit einem Mädchen?
    War Claires Besorgnis über Michels Verhalten gespielt gewesen? Dienten ihre Fragen nur dazu, herauszufinden, wie viel ich wusste? Ob ich überhaupt einen blassen Schimmer davon hatte, was unser Neffe und unser Sohn in ihrer Freizeit alles trieben?
    »Mama ist drinnen«, sagte ich. »Mit …« – ich wollte »mit Onkel Serge und Tante Babette sagen«, aber das klang mir dann in Anbetracht der jüngsten Vorfälle zu kindisch. »Onkel« Serge und »Tante« Babette gehörten der Vergangenheit an: der fernen Vergangenheit, in der wir noch glücklich waren, ging esmir durch den Kopf, und ich biss mir auf die Lippe. Ich musste aufpassen, dass meine Lippe nicht zu zittern anfing und dass Michel meine feuchten Augen nicht bemerkte. »… Serge und Babette«, beendete ich den Satz. »Wir sind gerade beim Hauptgang.«
    Irrte ich mich da oder tastete Michel in der Jackentasche tatsächlich nach etwas? Vielleicht nach seinem Handy? Er trug keine Uhr, er schaute immer aufs Handy, wenn er wissen wollte, wie spät es war. Ich sorge schon dafür, dass wir bis nach Mitternacht wegbleiben, hatte Claire ihm auf der Mailbox zugesichert. Ihr müsst es also heute Abend tun. Drängte es ihn jetzt, da ich ihm gesagt hatte, wir würden beim Hauptgang sitzen, die richtige Uhrzeit zu erfahren? Wollte er wissen, wie viel Zeit er noch »bis nach Mitternacht« hatte, um zu tun, was sie tun mussten?
    Der Ton in Michels Stimme, der mich noch vor einer halben Minute geängstigt hatte, war verschwunden, als er nach seiner Mutter fragte. Wo ist Mama? »Onkel« und »Tante« war kindisch und hatte mit Geburtstagsfeiern und Fragen wie: »Was willst du später einmal werden?« zu tun. Aber »Mama« war Mama. Mama würde immer Mama bleiben.
    Ohne weiter drüber nachzudenken, beschloss ich, dass jetzt der richtige Moment war. Ich holte Michels Handy heraus. Erst schaute er auf meine Hand, dann blickte er auf.
    »Du hast reingeguckt«, sagte er; seine Stimme klang längst nicht mehr drohend, eher erschöpft – ergeben.
    »Ja«, sagte ich. Ich zuckte mit den Schultern, wie man eben mit den Schultern zuckt, wenn man an einer Sache sowieso nichts mehr ändern kann. »Michel …«, fing ich an.
    »Was hast du gesehen?« Er griff nach seinem Handy in meiner Hand, schob den Deckel hoch und dann wieder hinunter.
    »Na … den Geldautomaten … und auch das mit dem Penner auf dem Bahnsteig …« Ich grinste – ein ziemlich dümmliches Grinsen, vermutete ich, zudem vollkommen deplatziert, aber ich hatte mir überlegt, dass ich so vorgehen würde, dass ich es so anpacken wollte: Ich würde mich ein bisschen dumm stellen, ein leicht naiver Vater, der kein Problem daraus macht, wenn sein Sohn Penner misshandelt und Obdachlose anzündet. Ja, naiv wäre am besten, es würde mich nicht viel Mühe kosten, den naiven Vater zu spielen, denn schließlich war ich das ja auch. »Jackass …«, sagte ich und grinste immer noch.
    »Weiß Mama es?«, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich.
    Was weiß Mama denn?, wollte ich ihn eigentlich fragen, aber dafür war es noch zu früh. Ich dachte an den Abend zurück, als die Bilder aus dem Häuschen mit dem Geldautomaten zum ersten Mal im Fernsehen gezeigt wurden. Claire hatte mich gefragt, ob ich den Rest Wein noch wolle oder ob sie noch eine neue Flasche aufmachen solle. Danach war sie tatsächlich in die Küche verschwunden. Die Moderatorin von Aktenzeichen XY forderte derweil die Zuschauer nachdrücklich dazu auf, die eingeblendete Nummer anzurufen, falls sie Informationen hätten, die zur Ermittlung der Täter dienlich sein könnten. »Sie können natürlich auch die Polizei in Ihrem Wohnort anrufen«, sagte die Frau und sah mich dabei mit edlem, bestürzten Blick an. »Wo alles in der Welt soll das noch hinführen?«, sagte der Blick.
    Als Claire sich mit einem Buch ins Bett gelegt hatte, war ich nach oben gegangen, zu Michels Zimmer. Unter der Tür war ein Lichtstreifen zu sehen. Ich weiß noch, dass ich über eine Minute im Flur stehen geblieben bin. Ich überlegte ernsthaft, was eigentlich passieren würde, wenn ich überhaupt nichts sagte. Wenn ich einfach so weiterleben würde, wie alle anderen auch. Ich dachte an das Glück – an glückliche Ehepaare und an die Augen meines Sohnes.
    Aber dann dachte ich an die vielen anderen, die die Sendung gesehen hatten: Schüler aus Ricks und Beaus Gymnasium, die an jenem Tag auch auf dem Schulfest gewesen waren – und vielleicht dasselbe

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