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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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ohne immer abseitigen, abschweifenden Gedankengängen nachzuhängen, wurde schon bald getrübt. Das Leben wurde gleichmäßiger, gedämpfter, als wäre man auf einem Fest und sähe, wie sich alle unterhielten und gestikulierten, ohne dass man ein Wort richtig versteht. Keine Auf und Abs mehr. Etwas war verschwunden. Man hört schon mal, dass Leute ihren Geruchs- und Geschmackssinn verlieren. Für diese Menschen ist ein Teller mit wunderbarem Essen bedeutungslos geworden. Ähnlich kam mir manchmal das Leben vor, wie eine frisch angerichtete warme Mahlzeit, die langsam kalt wird. Ich wusste, dass ich essen musste, weil ich sonst sterben würde, aber ich verspürte keinen Appetit mehr.
    Ein paar Wochen später unternahm ich einen letzten Versuch, die Euphorie des ersten Sonntagnachmittags wiederzugewinnen. Michel war gerade eingeschlafen. Claire und ich lagen gemeinsam auf dem Sofa und schauten uns im Fernsehen eine Sendung über zum Tode Verurteilte in den USA an. Unser Sofa war breit und tief, wenn man die Kissen etwas verschob und sich zurechtrückte, passten wir beide drauf. Da wir nebeneinanderlagen, brauchte ich sie nicht anzusehen.
    »Ich habe nachgedacht«, sagte ich. »Wenn wir jetzt noch ein Kind bekommen, ist Michel fünf bei der Geburt.«
    »Das habe ich letztens auch gedacht«, sagte Claire. »Die Idee ist wirklich nicht so gut. Wir sollten zufrieden sein mit dem, was wir haben.«
    Ich fühlte die Körperwärme meiner Frau; mein Arm, den ich ihr um die Schultern gelegt hatte, zuckte vielleicht ganz kurz. Ich dachte an das Gespräch mit dem Schulpsychologen.
    Hattest du eigentlich eine Fruchtwasseruntersuchung?
    Ich könnte es einfach so beiläufig fragen. Nachteilig war nur, dass ich ihr im Moment der Frage nicht in die Augen sehen könnte. Ein Nachteil, aber auch ein Vorteil.
    Dann dachte ich an unser Glück. An unsere glückliche Familie, die zufrieden mit dem sein musste, was sie hatte.
    »Sollen wir am Wochenende irgendwo hinfahren?«, fragte ich. »Uns ein Häuschen mieten oder so. Einfach nur wir drei?«

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    34
    Und dann? Dann wurde Claire krank. Claire, die nie krank war, die höchstens mal ein paar Tage mit einer Erkältung herumlief und noch nicht einmal einen Tag wegen einer Grippe im Bett blieb, kam ins Krankenhaus. Von einem Tag auf den anderen. Wir hatten uns nicht auf den Krankenhausaufenthalt vorbereiten können, wir hatten sozusagen keine Vorkehrungen treffen können. Morgens hatte sie sich ein wenig schlapp gefühlt, wie sie es selbst ausgedrückt hatte, aber sie war doch aus dem Haus gegangen, hatte mich zum Abschied auf den Mund geküsst und war dann aufs Fahrrad gestiegen. Mittags sah ich sie dann wieder, aber da hatte sie bereits mehrere Infusionen im Arm, und ein piepsender Monitor stand am Kopfende ihres Bettes. Sie versuchte mir zuzulächeln, doch es bereitete ihr sichtlich Mühe. Vom Gang winkte mich der Chirurg zu sich heraus, er wollte mich kurz unter vier Augen sprechen.
    Ich werde jetzt nicht erzählen, woran Claire litt, das ist meiner Ansicht nach Privatsache. Es geht niemanden etwas an, mit welcher Krankheit man herumläuft. Jedenfalls ist es ihre Sache, ob sie etwas darüber erzählen möchte, und nicht meine. Ich beschränke mich darauf zu sagen, dass es sich nicht um eine lebensbedrohliche Krankheit handelte, allerdings war das am Anfang keineswegs klar. Das Wort wurde mehrmals von Freunden, Familienmitgliedern, Bekannten und Kollegen, die anriefen, in den Mund genommen. »Ist es lebensbedrohlich?«,erkundigten sie sich. Mit leicht umflorter Stimme, doch die Sensationslust war deutlich herauszuhören – wenn Leute die Gelegenheit bekommen, in die Nähe des Todes zu gelangen, ohne selbst davon betroffen zu werden, werden sie sich die Chance niemals entgehen lassen. Ich kann mich besonders gut daran erinnern, wie gerne ich diese Frage bejaht hätte. »Ja, es ist lebensbedrohlich.« Ich war neugierig auf die Stille am anderen Ende der Leitung.
    Ohne also näher auf die Details von Claires Krankheit einzugehen, will ich hier doch kurz berichten, was der Chirurg zu mir gesagt hat, nachdem er mich mit einem ernsten Gesicht über den nächsten Eingriff informiert hatte. »Ja, es ist keine Lappalie«, sagte er nach der Pause, die er mir gegönnt hatte, um die jüngste Nachricht zu verarbeiten. »Von einem Tag auf den anderen verändert sich das komplette Leben. Aber wir tun unser Bestes.« Letzteres sagte er in einem fast heiteren Ton, ein heiterer Ton, der nicht zu seinem

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