Angerichtet
sondern an die Masse an sich. Ob nun drei Millionen oder sechs Milliarden einem bestimmten Zweck dienten. Hatte ich diesen Punkt einmal erreicht, breitete sich in mir ein erstes Unbehagen aus. Es gibt nicht unbedingt zu viele Menschen, überlegte ich, es gibt nur sehr viele. Ich dachte an die Schüler in meiner Klasse. Sie alle standen unter einem Zwang: Einmal ins Leben geworfen, mussten sie weitermachen, mussten sie durch dieses Leben kommen.Dabei konnte schon eine Stunde unerträglich lang sein. Sie mussten eine Arbeitsstelle finden, mussten Ehen schließen, und sie würden Kinder zur Welt bringen. Und auch diese Kinder würden in der Schule Geschichtsunterricht erhalten, wenn auch nicht mehr von mir. Von einer gewissen Warte aus konnte man nur noch die Anwesenheit der Menschen erkennen und nicht mehr den einzelnen Menschen an sich. Davon bekam ich Beklemmungen. Äußerlich merkte man mir das nicht unbedingt an, abgesehen davon, dass die Zeitung noch immer ungelesen auf meinem Schoß lag. »Möchtest du vielleicht ein Bier?«, fragte Claire, die mit einem Glas Rotwein in der Hand ins Zimmer kam. Ich musste jetzt »Ja, gerne« sagen, ohne dass der Klang meiner Stimme befremdlich wirkte. Ich hatte Angst, meine Stimme könnte klingen wie bei jemandem, der gerade erst aufgewacht ist und noch nicht gesprochen hatte. Oder einfach wie eine seltsame Stimme, nicht ganz als die meine zu erkennen, eine beängstigende Stimme. Claire würde die Augenbrauen hochziehen und fragen: »Ist was?« Und ich würde es natürlich abstreiten, würde den Kopf schütteln, aber viel zu heftig, wodurch ich mich selbst verraten würde, und mit einem seltsamen, beängstigenden Piepsstimmchen, das nur im Entferntesten meiner Stimme ähnelte, sagen: »Nein, es ist nichts. Was soll denn sein?«
Und dann? Dann würde sich Claire zu mir aufs Sofa setzen, sie würde meine Hand in ihre Hände nehmen, möglicherweise legte sie mir auch eine Hand auf die Stirn, wie bei einem Kind, wenn man fühlen will, ob es Fieber hat. Und jetzt kommt es. Ich wusste, dass das Tor zur Normalität sperrangelweit aufstand. Claire würde zwar noch einmal fragen, ob denn auch wirklich nichts sei, und ich würde erneut den Kopf schütteln, allerdings nicht ganz so heftig. Anfangs wäre sie noch etwas besorgt, aber das würde sich bald legen: Immerhin reagierte ich ja normal, meine Stimme piepste nicht mehr, und ich gab entspannt Antwort auf ihre Fragen. Nein, ich träumte nuretwas vor mich hin. Wovon? Das weiß ich schon nicht mehr. Komm, weißt du eigentlich, wie lange du hier schon mit der Zeitung auf dem Schoß herumliegst? Anderthalb Stunden, vielleicht auch zwei! Ich habe über den Garten nachgedacht, ein Gartenhäuschen würde sich doch vielleicht gut machen. Paul … Ja? Man denkt nicht anderthalb Stunden über den Garten nach. Nein, natürlich nicht, ich meine, ich habe vielleicht in der letzten Viertelstunde über unseren Garten nachgedacht. Aber davor?
An diesem Sonntagnachmittag, eine Woche nach meinem Gespräch mit dem Schulpsychologen, schaute ich zum ersten Mal in den Garten, ohne dabei an anderes zu denken. Ich hörte Claire in der Küche. Sie summte leise eine Melodie im Radio mit, einen Song, den ich nicht kannte, in dem aber wiederholt die Worte »auch mein Blümchen« auftauchten.
»Worüber lachst du?«, fragte sie, als sie kurz darauf mit einem Becher Kaffee in jeder Hand ins Zimmer kam.
»Einfach so«, sagte ich.
»Was soll das heißen, einfach so, du müsstest dich mal sehen! Du glotzt wie ein frisch bekehrter Baghwan. Vollkommene Glückseligkeit.«
Ich sah sie an, ich fühlte mich auf angenehme Art wohlig warm, wie unter einer Daunendecke. »Ich habe gerade nachgedacht …«, fing ich an, doch plötzlich überlegte ich es mir anders. Ich hatte über ein weiteres Kind sprechen wollen. In den vergangenen Monaten hatten wir das Thema ruhen lassen. Ich dachte an den Altersunterschied, der im günstigsten Fall knapp fünf Jahre betrüge. Also entweder jetzt oder nie. Aber trotzdem war da in meinem Inneren eine Stimme, die mir sagte, dass jetzt nicht der passende Moment war, vielleicht in ein paar Tagen, aber nicht an diesem Sonntagnachmittag, an dem die Medikamente zu wirken angefangen hatten.
»Ich dachte gerade, dass sich ein Gartenhäuschen doch gut in unserem Garten machen würde«, sagte ich.
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Im Nachhinein betrachtet war an diesem Sonntag zugleich auch der Höhepunkt erreicht. Die neue und angenehme Erfahrung, leben zu können,
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