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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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überlegte ich. Das war besser als »Papa hat keine Ahnung«.
    Claire schaute zur Seite.
    »Was ist?«, fragte Babette.
    »Wie spät ist es?«, fragte Claire.
    Babette holte ihr Handy aus der Tasche und sah aufs Display.
    Dann nannte sie die Uhrzeit und legte das Handy vor sich auf den Tisch. Sie sagte nicht zu Claire: »Aber du kannst doch auf deinem eigenen Handy die Uhrzeit erkennen.«
    »Unser Schatz hockt schon den ganzen Abend daheim herum«, sagte Claire. »Er ist zwar schon fast sechzehn, markiert den starken Mann, aber dennoch …«
    »Für andere Sachen sind sie wiederum nicht zu jung«, warf Babette ein.
    Claire schwieg, mit der Zungenspitze strich sie sich über die Unterlippe. Das macht sie immer dann, wenn sie sich über etwas aufregt. »Manchmal denke ich, dass genau das der Fehler ist, den wir machen«, sagte sie. »Wir wissen, dass sienoch jung sind. Für die Außenwelt aber sind sie erwachsen, weil sie etwas getan haben, das von uns, den Erwachsenen, als Verbrechen angesehen wird. Aber ich finde, dass sie selbst eher wie Kinder damit umgehen. Genau das hatte ich Serge eben vermitteln wollen. Dass wir kein Recht darauf haben, ihnen ihre Kindheit zu nehmen, ausschließlich und nur allein deswegen, weil es für unsere erwachsenen Normen ein Verbrechen ist, für das man sein ganzes Leben lang büßen muss.«
    Babette stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube leider, du hast recht, Claire. Etwas ist verschwunden, etwas – vielleicht seine Unbefangenheit. Er war immer so … na, ihr wisst ja, wie Rick war. Diesen Rick gibt es nicht mehr. In den vergangenen Wochen hockte er nur in seinem Zimmer herum. Beim Essen sagt er kaum etwas. Da ist etwas in seinem Gesicht, etwas Ernstes, als würde er die ganze Zeit über etwas nachgrübeln. Das hat er früher nie gemacht, grübeln.«
    »Aber es spielt doch auch eine Rolle, wie ihr damit umgeht. Ich meine, vielleicht grübelt er die ganze Zeit herum, weil er denkt, dass ihr das so von ihm erwartet.«
    Babette sagte eine Weile nichts; sie legte eine Hand flach auf den Tisch und schob mit den Fingerspitzen ihr Handy einen Zentimeter von sich übers Tischtuch. »Ich weiß es nicht, Claire. Sein Vater … sein Vater erwartet von ihm, glaube ich, eher als ich von ihm, dass er darüber nachdenkt, auch wenn es vielleicht nicht fair ist, so etwas zu sagen. Fest steht aber, dass die Position seines Vaters für ihn manchmal problematisch ist. In der Schule. Bei Freundschaften. Ich meine, er ist fünfzehn, er ist noch immer sehr stark der Sohn. Aber zudem ist er auch noch der Sohn von jemand, den alle aus dem Fernsehen kennen. Manchmal zweifelt er an Freundschaften. Dann glaubt er, die Leute sind nett zu ihm, weil sein Vater berühmt ist. Oder andersherum: dass Lehrer ihn manchmal ungerecht behandeln, weil sie damit nicht umgehen können.Ich kann mich noch genau daran erinnern, als er auf das Gymnasium kam, da sagte er: ›Mama, ich habe das Gefühl, ich fange ganz von vorne an!‹ Darüber war er sehr glücklich. Doch nach einer Woche wusste wieder die ganze Schule, wer er war.«
    »Und demnächst weiß die Schule auch noch etwas anderes. Wenn es nach Serge geht.«
    »Das predige ich Serge ja die ganze Zeit. Dass Rick bereits mehr Schwierigkeiten wegen seinem Vater gehabt hat, als gut für ihn ist. Und jetzt will Serge ihn auch noch in dieses ganze Theater mit hineinziehen. Darüber kommt er niemals mehr hinweg.«
    Ich dachte an Beau, an den adoptierten Sohn aus Afrika, der in Babettes Augen nichts Böses anrichten konnte.
    »Wir stellen bei Michel fest, dass er das, was du Unbefangenheit nennst, noch immer hat. Er hat natürlich keinen so berühmten Vater, aber dennoch … Es belastet ihn nicht so stark. Manchmal beunruhigt es mich sogar, weil es nicht richtig zu ihm durchzudringen scheint, was das alles für seine Zukunft bedeuten kann. In dieser Hinsicht reagiert er tatsächlich noch eher wie ein Kind. Ein sorgloses Kind und kein grübelnder, frühreifer Erwachsener. Für Paul und mich war das auch das Dilemma. Wie wir ihn auf seine Verantwortung hinweisen sollten, ohne dabei zugleich seine kindliche Unschuld zu zerstören.«
    Ich sah zu meiner Frau. Für Paul und mich … wie lange war es her, dass Claire und ich voneinander noch glaubten, der andere befinde sich in Unwissenheit? Eine Stunde? Fünfzig Minuten? Ich schaute auf Serges unberührte Dame blanche: Genau wie bei den Jahresringen in Bäumen oder der »Kohlenstoff-14-Methode« musste es technisch möglich

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