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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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sein, verstrichene Zeit am Schmelzvorgang von Vanilleeis ablesen zu können.
    Ich schaute in Claires Augen, in die Augen der Frau, die fürmich das Glück darstellte. Ohne meine Frau wäre ich nichts, behaupten Männer hin und wieder in sentimentaler Stimmung. Sie bezeichnen sich als ungeschickt: Doch eigentlich meinen sie damit nur, dass ihre Frau ihr Leben lang den ganzen Dreck hinter ihnen weggeräumt und nie damit aufgehört hat, dem Mann zu jeder Tageszeit einen Kaffee zu bringen. So weit würde ich bei Claire nicht gehen wollen, auch ohne Claire wäre ich irgendwo hingekommen, allerdings irgendwo anders. »Claire und ich wollen, dass Michel mit seinem Leben weitermachen kann. Wir wollen ihm keine Schuldgefühle einreden. Ich meine, er hat zwar an irgendetwas Schuld, es darf aber auch nicht so sein, dass eine Obdachlose, die sich in einem Geldautomatenhäuschen in den Weg legt, plötzlich die Unschuld selbst ist. Überlässt man es der hier herrschenden Rechtsauffassung, neigt man sehr schnell zu einem solchen Urteil. Man hört es aber auch immer und überall: Wohin das mit der entgleisten Jugend noch führen soll. Nie ein Wort über entgleiste Penner und Obdachlose, die sich einfach überall hinlegen, wo es ihnen gerade passt. Nein, sie wollen ein Exempel statuieren, passt mal gut auf, denn indirekt denken die Richter an ihre eigenen Kinder. Die sie vielleicht auch nicht mehr unter Kontrolle haben. Wir wollen nicht, dass Michel Opfer einer Volksmeute wird, die Blut sehen will, dieselbe Volksmeute, die laut nach Wiedereinführung der Todesstrafe schreit. Michel ist uns zu kostbar, als das wir ihn diesem Mob opfern würden. Zudem ist er dafür zu intelligent. Da steht er meilenweit drüber.«
    Claire hatte mich während meines Plädoyers die ganze Zeit angeschaut, auch ihr Blick und ihr Lächeln waren nun Teil unseres Glücks. Ein Glück, das vielem gewachsen war, das Außenstehende nicht einfach mal schnell zerstören konnten.
    »Da hast du wirklich recht!«, sagte sie und streckte die Hand, in der sie ihr Handy festhielt, in die Luft. »Ich wollte Michel anrufen. Wie spät war es, was hast du gesagt?«, fragte sie Babetteund drückte auf eine einzige Taste – aber sie schaute mich weiterhin an, während sie das fragte.
    Und wieder benutzte Babette das Display ihres Handys und nannte die Uhrzeit.
    Ich sage jetzt nicht, wie spät es genau war. Genaue Zeitangaben können sich später gegen einen wenden.
    »Hallo, mein Lieber!«, sagte Claire. »Wie geht es dir? Langweilst du dich nicht?«
    Ich betrachtete das Gesicht meiner Frau. Jedes Mal, wenn sie mit unserem Sohn am Telefon sprach, passierte etwas mit ihrem Gesicht, mit ihren Augen, sie fing an zu strahlen. Jetzt lachte sie, sie sprach in einem lockeren Ton – aber sie strahlte nicht.
    »Nein, wir trinken nur noch einen Kaffee, in einer knappen Stunde sind wir wieder daheim. Du hast also noch genug Zeit, die Unordnung aufzuräumen. Was hast du denn gegessen …?«
    Sie hörte zu, nickte, sagte noch ein paar Mal Ja und Nein und beendete nach einem letzten »Bis später, mein Lieber, einen Kuss«, das Gespräch.
    Im Nachhinein weiß ich nicht, ob es an ihrem Gesicht lag, das nicht strahlte, oder daran, dass sie sich nicht ein einziges Mal auf unser vorheriges Treffen mit unserem Sohn im Garten des Restaurants bezog, jedenfalls verstand ich schlagartig, dass wir soeben Zeugen eines Theaterstücks geworden waren.
    Doch für wen war diese Inszenierung gedacht? Für mich? Das kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Für Babette? Doch mit welchem Ziel? Claire hatte Babette zweimal ausdrücklich nach der Uhrzeit gefragt – als wollte sie sich damit vergewissern, dass Babette sich später daran erinnern würde.
    Papa hat keine Ahnung.
    Und plötzlich hatte Papa doch eine Ahnung.
    »Die Espressos waren für …« Es war eine der schwarzenKellnerinnen. In der Hand hielt sie ein silbernes Tablett mit zwei Espressotassen und zwei winzig kleinen Grappagläsern.
    Und während sie die Tassen und Gläser vor uns abstellte, spitzte meine Frau die Lippen zu einem Kuss.
    Sie sah mich an – danach küsste sie in die Luft zwischen uns.

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    Vor gar nicht allzu langer Zeit hat Michel eine Hausarbeit über die Todesstrafe geschrieben. Eine Hausarbeit für den Geschichtsunterricht. Anlass war eine Dokumentation über Mörder, die nach Absolvierung ihrer Haftstrafe wieder in die Gesellschaft zurückkehrten und oft, kaum waren sie auf freiem Fuß, erneut einen Mord begingen. Es

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