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Angriff auf die Freiheit

Angriff auf die Freiheit

Titel: Angriff auf die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Ilija;Zeh Trojanow
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dermaßen gewöhnt, daß ihm sämtliche Maßnahmen des Staates, wenn er sie einmal zur Kenntnis nähme, vergleichsweise harmlos erscheinen würden. Außerdem ist Achim hundertprozentig sicher, ein so braver Mensch zu sein, daß er niemals ins Fadenkreuz der Behörden geraten wird. Das bißchen Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit verbucht er unter »Kavaliersdelikte«. Grundsätzlich ist er ein gehorsamer Bürger. Ein Konflikt mit den Autoritäten ist für ihn undenkbar. Achim widerspricht seinem Chef nicht und kuscht vor jedem Polizisten. Er würde nicht einmal gegen Unrecht protestieren, das zum Himmel schreit. Achim besitzt kein Mitgefühl für Menschen, die mit dem Staat aneinander-geraten. Die sind alle irgendwie selbst schuld, Ausländer, Drogenabhängige, jugendliche Randalierer, politische Extremisten. Kein Rauch ohne Feuer, und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wenn Achims Nachbar von der Polizei abgeholt würde, stünde Achim am Fenster und würde sich selbst einreden, daß der sympathische und stets hilfsbereite Nachbar schon irgend etwas Schlimmes angestellt haben wird: Da schau mal einer an, was hinter einer netten Fassade lauern kann! Achim ist der vollendete Untertan. Er ist das personifizierte Versprechen, der Obrigkeit niemals aufzufallen.
    Es gibt noch einen weiteren Grund, aus dem es Achim nicht stört, wenn er am Bahnhof von Videokameras gefilmt wird. Wenn man ihm einredete, diese Kameras seien mit dem Internet verbunden und die Bilder weltweit abrufbar, würde er grinsend und mit gerecktem Victory-Zeichen vor den Kameras auf und ab tanzen und vielleicht noch »Papa, can you hear me? Papa, can you see me?« singen. Denn Achim findet sich selbst hochinteressant und will sich der Welt nicht vorenthalten. Er stellt Photos von seinen Kindern ins Netz. Sein Hund hat eine eigene Homepage. Achim hat User-Profile bei Facebook , MySpace und YouTube . Er spricht in Foren über seine Seitensprünge und leistet Trauerarbeit, weil ihn seine Frau verlassen hat. Auf der anderen Seite liest sich Achim auch gern durch die privaten Geschichten anderer Teilnehmer und schaut sich die Urlaubsphotos von Fremden an. Vielleicht macht das Kommunikationszeitalter einsam, doch gewiß nicht aus Mangel an Bekannten – man sehe sich Achims virtuelle Freundeslisten an.
    Insgesamt bedeutet das Internet für Achim die perfekte Synthese zwischen Exhibitionismus und Voyeurismus. Er liebt es, sich selbst zu veröffentlichen, weil es ihm das wunderbare Gefühl gibt, tatsächlich »da«zusein, relevant und vielleicht sogar ein bißchen unsterblich. Die anderen veröffentlichten Existenzen beweisen ihm, daß er nicht allein ist. Wenn sich nun neben dem Netz auch noch der Staat für Achim interessiert – warum nicht? Er kann verstehen, daß jemand seine Meinungen lesen will. Die sind auch wirklich außergewöhnlich.

    Sie, lieber Leser, sind bestimmt kein narzißtisch veranlagter, rabattgieriger Untertan wie Achim Angepaßt. Ein jeder von uns ist mit seinem jeweiligen Alltag beschäftigt. Wir sind abgelenkt, während Gesetze geändert und Argumente geschmiedet werden. Aber wenn Sie etwas Beunruhigendes erfahren, nehmen Sie es mit allem gebotenen Ernst wahr und denken darüber nach. Es hat wohl andere Gründe , daßSie sich nicht gegen den Aufbau eines Überwachungsstaats wehren. Sie sind gewissermaßen ein zu guter Demokrat. Sie lieben die persönliche Freiheit. Sie halten die Demokratie für ein gutes System oder zumindest für das beste unter den schlechten. Aber »Demokratie« ist kein Glaubensbekenntnis, sondern ein Verfahren zur Verteilung und Eindämmung von Macht. Es gehört gerade zur demokratischen Idee, die Eingriffsbefugnisse des Staates zu beschränken, um den freiheitlich denkenden und handelnden Bürger zu stärken – durchaus auch auf Kosten der staatlichen Effizienz. Solche Beschränkungen der Macht entspringen nicht einer humanistischen Freundlichkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern. Sie sind praktische Existenzbedingung unserer Staatsform. Der von staatlichen Eingriffen bedrängte Bürger könnte nämlich seine Mitwirkungsrechte nicht mehr adäquat ausüben, und die Demokratie wäre schnell dahin.
    Sie, lieber Leser, wissen das natürlich – aber Sie fühlen es nicht mehr. Die Demokratie ist Ihnen selbstverständlich geworden. Sie können sich nicht vorstellen, daß in einem über Jahrzehnte hinweg friedlichen Land wie Deutschland die Demokratie von innen heraus in die Brüche gehen könnte.
    Sie meinen,

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