Angriff auf die Freiheit
anstatt sich zu überlegen, ob vor Erlaß des Gesetzes vielleicht zu wenig Verfassungskunde betrieben wurde.
Tragischerweise lernt die Sicherheitspolitik aus den peinlichen Belehrungen durch das Verfassungsgericht nicht hinzu. Anstatt innezuhalten, Bilanz zu ziehen und zu Augenmaß und vernünftiger politischer Selbstbeschränkung beim Umgang mit verfassungsrelevanten Fragen zurückzukehren, werden neue Entwürfe in Serie formuliert. Seit sechzig Jahren wird das Grundgesetz in Schulen und Sonntagsreden als Fundament der Gesellschaft gelobt. Im Kampf gegen den Terror wird es als lästiges Hindernis behandelt, als letztes Bollwerk vernünftelnder Gutmenschen und Bedenkenträger.
Nicht alle Politiker, die den sogenannten Bürgerrechten wenig Sympathie entgegenbringen, fassen ihre Haltung in so deutliche Worte wie John Major. Die Neigung, Grundrechte als Verbrecherrechte zu betrachten, spiegelt sich jedoch in den Ergebnissen von acht Jahren Sicherheitspolitik. Schneller sind die Grundrechtsstandards in funktionierenden Demokratien nie zurückgefahren worden. Selbst ehemalige Mitarbeiter der Bush-Regierung bestätigen das wahnhafte Denken der führenden Köpfe. Wie Lawrence Wilkerson, Stabsleiter des ehemaligen Außenministers Colin Powell, nachträglich einräumte:
»(Vizepräsident) Cheney verfolgte zielstrebig ein schwarz-weißes Ziel, bei dem die Sicherheit Amerikas Vorrang vor allem anderen hatte. Er dachte, daß perfekte Sicherheit erreicht werden kann. Ich kann ihm nicht vorwerfen, daß er um die Sicherheit von Amerika bemüht war, aber er war bereit, das ganze Land zu verderben, um es zu retten.«
Ein ähnlich fatales Denken liegt auch den Entscheidungen der meisten Innenminister in Europa zugrunde.
Nicht nur Verfassungsrichter können zu lästigen Hindernissen im Kampf gegen den Terrorismus werden, auch die nationalen Parlamente. Droht eine gewünschte Maßnahme nicht die erforderlichen Mehrheiten zu finden, wird »über Bande gespielt« – die heimische Legislative wird mit Hilfe der EU-Institutionen in Brüssel umschifft. Das funktioniert deshalb so gut, weil Entscheidungen auf EU-Ebene nach wie vor hauptsächlich von Vertretern der Exekutive gefällt werden. Im Rat treffen sich die Minister der Mitgliedstaaten, um beispielsweise eine Verordnung über biometrische Reisepässe zu beschließen (so geschehen am 13. Dezember 2004). Dabei wird das Europäische Parlament weitgehend umgangen. Anschließend kommt diese bindende Verordnung zu den nationalen Parlamenten, muß von diesen zwingend umgesetzt werden – und die neuen Reisepässe mit Fingerabdrücken sind eingeführt. Wenn dann angesichts kritischer Stimmen die Mundwinkel heruntergezogen und die Achseln gezuckt werden und es wieder einmal heißt, daß die Verantwortung für die neue Regelung doch in Brüssel liege, so ist das politische Heuchelei. »Brüssel« ist keine abgehobene Behörde, die von Außerirdischen gesteuert wird. Es sind unsere Minister, die dort höchstpersönlich die Geschicke lenken.
Und zwar eifrig. Außer den biometrischen Reisepässen waren und sind Luftsicherheit, Vorratsdatenspeicherung, Fluggastdatenspeicherung, der EU-Haftbefehl, die Einrichtung einer zentralen Datei für die Fingerabdrücke sämtlicher Bürger sowie viele Fragen des Ausländerrechts auf der Brüsseler Anti-Terror-Agenda – und das, obwohl die innere Sicherheit nach den geltenden EU-Verträgen nach wie vor nicht zum Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts gehört. Seit 2007 gibt es die von Wolfgang Schäuble und dem damaligen EU-Justizkommissar Frattini gegründete »Future Group«, eine »hochrangige informelle Gruppe«, in der die EU-Innenminister die neuen Richtlinien der europäischen Innenpolitik entwickeln. Hochrangig und informell – mit anderen Worten, fernab von Öffentlichkeit und parlamentarischer Kontrolle.
Bedenklich ist dies nicht nur, weil die nationalen Parlamente an der Entstehung des EU-Rechts nicht beteiligt sind und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments die Defizite bei weitem nicht ausgleichen. Vor allem ist Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene für Einzelpersonen nur unter äußerst schwierigen Bedingungen zu erlangen. Und im Inland sind Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Gesetze, die aufgrund von EU-Entscheidungen zustande kommen, stark eingeschränkt. Ein Narr, wer Böses dabei denkt.
Den Fluchtpunkt flexibler Handhabung von Rechtsschutz im Anti-Terror-Kampf zeigt allerdings wieder einmal der Blick nach Amerika –
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