Angriff auf die Freiheit
seien die Terroristen schuld, ist erbärmlich – denn was ist eine Moral wert, die sich bei der ersten Herausforderung in Luft auflöst?
Wir nähern uns wieder einmal dem verführerischen Irrglauben, man dürfe und müsse in bestimmten Situationen allgemeinverbindliche Normen ignorieren. Längst gibt es wieder Juristen, die an den Ausnahmefall glauben, also an jenen rechtsfreien Raum, in dem die »normalen« Gesetze nicht mehr gelten. Gerät ein Verdächtiger in diesen Bereich, verliert er seinen Status als Rechtsperson und damit als Mensch. Die Frage, ob der Staat auch seine Feinde als Rechtssubjekte achten müsse, wird seit neuestem von einigen Juristen mit einem klaren »Nein!« beantwortet. Der Feind steht, mit dem Staatsrechtsprofessor Otto Depenheuer gesprochen, außerhalb des Gesellschaftsvertrages.
Wer über den Ausnahmefall entscheidet, hat Carl Schmitt, berühmt-berüchtigter Staatsrechtler der Weimarer Republik und juristischer Vordenker des »totalen Staates«, ein für allemal klargestellt: »Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht«, oder auch: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Frei übersetzt bedeutet das: Wer ein Gewehr hat, hat recht. Um welche Sorte »Souverän« es sich nach diesen Definitionen handelt, wissen wir seit 1933. Dies hindert zeitgenössische Rechtstheoretiker nicht daran, sich offen oder verdeckt auf das Schmittsche Gedankengut zu berufen.
Achten Sie einmal auf die Struktur der Fallbeispiele, mit denen radikale Denkansätze dem Stammtischpublikum schmackhaft gemacht werden sollen. Sie werden feststellen, daß sich alle Schreckensszenarien dieselben Hauptzutaten teilen. Stets ist ohne jeglichen Zweifel klar, daßwir es mit einem Terroristen zu tun haben – diese Prämisse liegt den Beispielen apodiktisch zugrunde (bei Merkel handelt es sich um einen »Selbstmordattentäter irgendeiner terroristischen Provenienz«). Weiterhin steht fest, daß die gewünschte Gegenmaßnahme (Folter, Abschuß eines Flugzeugs usw.) auf jeden Fall zielführend ist, daß die bedrohten Menschen also durch das angestrebte Verhalten mit Sicherheit gerettet werden können. Zudem ist immer wunderbarerweise die Staatsgewalt zugegen und handlungsfähig – ein Polizist sitzt mit dem Terroristen im Flugzeug, die Bundeswehr hat ihre Luftabwehrraketen schon aufgebaut. Und schließlich sind andere Rettungsmaßnahmen hundertprozentig ausgeschlossen. Das Flugzeug kann nicht notlanden, die Bombe kann nicht entschärft werden, in drei Minuten ist alles vorbei. Die Welt ist also in Schwarz und Weiß unterteilt.
Mit solchen Beispielen beschreiben die Professoren keine realistischen Probleme, für die Lösungen gefunden werden müssen. Sie konstruieren fiktive Versuchsanordnungen unter idealen Bedingungen. Dem Leser wird etwas vorgegaukelt, das in der Wirklichkeit niemals existiert: absolutes Wissen über sämtliche Umstände einer Situation, ihre Vorbedingungen und ihren künftigen Verlauf. Mit dem gleichen übernatürlichen Wissen läßt sich ein »Terrorist« mühelos von einem »Bürger« unterscheiden. Diese Idee eines gottähnlichen Wissens, einer absoluten Urteilsfähigkeit liegt dem totalen Staatsverständnis von Carl Schmitt zugrunde. »Es irren die Einzelnen, ein Volk irrt nie«, hieß es prägnant bei einem anderen NS-Juristen, Hans Frank. Und auch in der DDR galt, mit den Worten der SED-Lobeshymne gesprochen: »Die Partei, die Partei, die hat immer recht!«
Rechtsstaatliche Garantien wie die Unschuldsvermutung oder der Anspruch auf einen erkenntnisbringenden Prozeß tragen der Tatsache Rechnung, daß ein Mensch niemals genau weiß, was um ihn herum geschieht, nicht einmal, wenn es sich vor seinen Augen abspielt. Ein Mensch kann weder die Vergangenheit richtig deuten noch in die Zukunft sehen. Ein entführtes Passagierflugzeug rast auf den Reichstag zu – aber wird es den Reichstag tatsächlich treffen? Oder wird es den Passagieren, die Wolfgang Schäuble von der Bundeswehr abschießen lassen will, vielleicht in letzter Sekunde gelingen, die Terroristen zu überwältigen? Und was ist mit dem »Selbstmordattentäter irgendeiner terroristischen Provenienz«? Hat er eine echte Bombe dabei, und wird sie wirklich explodieren? Ist der Terrorist nicht vielleicht ein Schizophrener, der eine Wahnvorstellung auslebt? Kennt der »Terrorist« den Code, um dessentwillen er gefoltert wird? Und kann das Flugzeug wirklich nicht notlanden?
Kein Mensch und deshalb auch kein Staat kann
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