Angriff auf die Freiheit
man sich aufs Mousepad sticken. Er erklärt, was sich seit Jahren im Bereich innerer Sicherheit vor unseren erstaunten Augen abspielt. Es geht nicht um Terrorismus, Kinderpornographie und Menschenhandel. Es geht um etwas viel Grundsätzlicheres – um Überwachung als Selbstzweck. Die Regierenden plagt anscheinend das Gefühl, den Staat nicht lassen zu können, wie er ist, nachdem die rasanten informationstechnologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die Gesellschaften so stark verändert haben. Sie versuchen eine Anpassungsbewegung, weshalb auch ständig von »Mithalten mit dem technischen Fortschritt« (Ziercke) und von »rechtsfreien Räumen im Internet« (Pofalla, Merkel, Beckstein) schwadroniert wird.
Die Politiker behaupten einen Zwang zum Handeln, wo zunächst einmal Diskussionsbedarf besteht, nämlich über die Frage, inwieweit und auf welche Weise der Staat auf technologische und gesellschaftliche Entwicklungen reagieren kann und soll. Diese Frage ist für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung. Sie betrifft auch Bereiche wie die kommerzielle Datenverwertung in der Wirtschaft und ihre Folgen für den Einzelnen; sie betrifft Wahlcomputer und Bioethik, Patientenkarte und Steuernummer; sie betrifft unser gesamtes Menschen-, Staats- und Gesellschaftsbild und verdient eine grundsätzliche Erörterung. Die Frage wird aber nicht gestellt, sondern mit Bedrohungsszenarien zugedeckt. Laut Angela Merkel gehört beispielsweise die Videoüberwachung zu den Dingen, »über die darf man nicht diskutieren, die muß man einfach machen«. Welches Menschen- und Gesellschaftsbild die Bundeskanzlerin hinter aufgestellten Videokameras verbirgt, zeigt die folgende Äußerung in noch erschreckenderer Deutlichkeit:
»Man darf nicht sagen, ach, das ist doch nicht so schlimm. Hier ein bißchen was weggeschmissen und dort einen angerempelt, hier mal auf den Bürgersteig gefahren und dort mal in der dritten Reihe geparkt. Immer so unter dem Motto, ist alles nicht schlimm. Ist alles nicht nach dem Gesetz, und wer einmal Gesetzesübertretungen duldet, der kann anschließend nicht mehr begründen, warum es irgendwann schlimm wird… Deshalb: Null Toleranz bei innerer Sicherheit, meine Damen und Herren.«
Darum geht es also in Wahrheit bei der »inneren Sicherheit«: um den gegängelten Bürger, um weggeworfenes Kaugummipapier, um die Leine, an die jeder von uns im Alltag gelegt werden soll, kurz: um die Unterbindung von »sozialschädlichem Verhalten«. »Anti-social behaviour« nennen es die Briten und bekämpfen es schon seit geraumer Zeit mit allerlei grotesken Mitteln. Die Logik dahinter besagt: Wer zuläßt, daß jemand bei Rot über die Ampel geht, der rechtfertigt auch Massenmord. Einen Staat, der auf dieser Prämisse gründet, möchte man sich in seinen düstersten Alpträumen nicht vorstellen.
Mit gutem Grund kann man das Gebaren der Politik bis hierhin schon schwer erträglich finden. Richtiggehend düster wird es allerdings, wenn man verfolgt, auf welche Weise die innere Sicherheit in der Gesetzgebungspraxis umgesetzt wird. Ein Gesetz nach dem anderen wird durch die Instanzen gepeitscht, oft hastig formuliert und nicht ausreichend erörtert – legislative Frühgeburten, die mit häßlicher Regelmäßigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht landen, wo sie von den obersten Richtern als grundgesetzwidrig abgeschmettert werden. Die meisten Sicherheitspolitiker scheinen sich keine ernsthaften Gedanken mehr darüber zu machen, wo die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen verlaufen. Das Interesse gilt vielmehr der Frage, wie man diese Grenzen – nötigenfalls durch eine Änderung des Grundgesetzes – ausdehnen kann. Oder wie man innerhalb dieser Grenzen zur höchstmöglichen Beschränkung von Grundrechten kommt. Letzteres läßt sich herausfinden, indem man politische Maximalforderungen in Gesetzesform gießt und das Nachdenken über die Grundgesetzmäßigkeit nach Karlsruhe »delegiert«. Den Richtern fällt dann die Aufgabe zu, die jeweils neue Maßnahme von den Rändern her so weit zurückzustutzen, daß sie gerade noch unter den Verfassungsschirm paßt. Anschließend bedanken sich die Politiker beim Verfassungsgericht herzlich für die »Klarstellung« (zum Beispiel nach dem Urteil über die Online-Durchsuchung im neuen BKA-Gesetz). Ist man mit dem Ergebnis hingegen ganz und gar unzufrieden, wirft man den Richtern vor, diese würden ihre Kompetenzen mißbrauchen, indem sie zu viel Politik betrieben –
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