Angst (German Edition)
nicht zum Schießplatz begleiten wolle, und ich sagte so trotzig wie ängstlich: Macht mir keinen Spaß. Macht ma keenen Spaß, habe ich in Wahrheit gesagt, ich habe als Kind berlinert, anders als meine Kinder, die im Südwesten Berlins kaum auf Kinder treffen, die Dialekt sprechen, während wir damals im Norden alle Dialekt gesprochen haben. Mein Vater hat mich angeschaut, nicht böse, sondern enttäuscht, und dann ist er alleine zum Schießplatz gefahren. Ich war nie mehr dort. Mein Vater hat auch nicht mehr gefragt, ob ich ihn begleiten wolle. Die befürchteten Sanktionen blieben aus, er hat mich nicht geschnitten, er hat nicht aufgehört, mir im Grunewald von unseren kommenden Reisen zu erzählen, er machte weiter mit diesen herrlichen Reportagen aus der Zukunft, ich blieb sein Gefährte. Das jedenfalls war mein Eindruck. Wie enttäuscht er war, habe ich erst viel später erfahren, über meinen Sohn. Als Paul fünf Jahre alt war, hat ihm mein Vater eine Schießscheibe geschenkt, eine quadratische Pappe, vielleicht fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter, außen gelblich, in der Mitte ein schwarzer Kreis, unterteilt von dünnen, weißen Linien. Sechs kleine Löcher sind in der Pappe, alle im schwarzen Kreis, alle mittig, einige berühren sich. Opa sagt, dass du gut schießen konntest, sagte Paul, als er mir die Schießscheibe zeigte. Ich nahm sie, gab sie ihm rasch zurück, drehte mich um und ging aus dem Zimmer. Mein Vater hat diese Scheibe fünfunddreißig Jahre lang aufbewahrt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, ein guter Schütze gewesen zu sein. Ich erinnere die Leiden, den Zorn meines Vaters. So ist das mit dem Gedächtnis.
Erst nach ein paar Wochen habe ich registriert, dass meine Schwester an den Samstagen morgens nicht zu Hause war. Ich habe meine Mutter gefragt, und sie sagte, dass sie mit dem Papa zum Schießplatz fahre. Das kam mir seltsam vor, sie war doch ein Mädchen, aber es kümmerte mich nicht weiter, vielleicht konnte sie Schießen lernen, Gefährtin werden konnte sie als Mädchen nicht, das war klar.
Es lohnt nicht, viel mehr aus meiner Kindheit zu erzählen. Wie gesagt, es war eine Kindheit, die ich als normal empfunden habe, als glücklich sogar. Freunde kamen, Freunde gingen, Mädchen wurden verachtet und geliebt, ein scheuer Kuss, ein kleiner Brief, es gab Teakholztage und Tage, an denen meine Mutter stundenlang mit uns spielte, Halma, Mensch ärgere Dich nicht, Malefiz, Mikado. Mein Vater saß auf dem Sofa und las. Orangefarbene Tapeten mit Zwiebelmustern, grüne Vorhänge, eine belegte Stimme aus dem Radio, ein Mann wurde beerdigt, ein wichtiger Mann, wahrscheinlich war es Konrad Adenauer, ich habe das nicht behalten, «Raumschiff Enterprise», dann euphorische Stimmen, Willy Brandt wurde Bundeskanzler, das habe ich behalten, Franz Beckenbauer, die blauen Uniformen der Stewardessen von Pan Am, mit denen wir auf Klassenfahrt nach Hamburg flogen, damit uns die Transitstrecke erspart blieb, die Trauerfeier bei den Olympischen Spielen in München, ein paar Prügeleien, bei denen ich unterlag, harmlos, ein Test bei einem Schulpsychologen, alles gut, aber auch ein Wort, das ich erst später verstand: Aggressionshemmungen. Kein Problem, sagte der Schulpsychologe meiner Mutter, und die sagte es mir. Von meinem Vater erinnere ich einen Zornausbruch. Er tobte, weil Studenten der Polizei eine Straßenschlacht geliefert hatten, das muss also 1967 oder 1968 gewesen sein.
Was es bei uns nicht gab: ein Telefon, einen Fernseher, «Raumschiff Enterprise» sah ich bei einem Freund, auch «Bonanza» und die «Sportschau». Meine Mutter nähte uns die Abzeichen, die Captain Kirk, Spock und die anderen auf der Brust trugen, gelbe, zackige Dreiecke, die sie aus Pappe ausschnitt und mit Stoff überzog.
Es war eine normale Kindheit, darauf bestehe ich. Ich war glücklich, meine Mutter hat mir das Beten beigebracht, und ich habe mich jeden Abend beim lieben Gott für das schöne Leben bedankt und darum gebeten, dass es so weitergeht. Das zählt für mich. Es gab viel später Jahre, da habe ich gedacht, dass diese Kindheit nicht glücklich gewesen sein kann, weil es so schwierig geworden war mit meinem Vater, und ich wollte ihm nicht zubilligen, dass er mir eine glückliche Kindheit möglich gemacht hat, aber das war albern, schäbig auch. Das waren die Jahre in der Friedensbewegung, als ich Waffen gehasst habe und mir nichts anderes vorstellen konnte, als dass Waffen Unglück verbreiten, ob sie töten oder
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