Angst (German Edition)
nicht, dass in den Waffen selbst schon die Gewalt steckt. Das Jahr auf dem Schießplatz kam mir wie der Missbrauch eines Kindes vor. Aber hat man das Recht, eine als glücklich empfundene Kindheit in eine unglückliche Kindheit umzumünzen, weil man später denkt, sie muss unglücklich gewesen sein, weil es eine Kindheit mit Waffen war? Ich denke nein. Schön war es wirklich nicht auf dem Schießplatz, aber es waren nur ein paar Samstage, und geschieht es nicht oft, dass Eltern ihre Kinder für ihren Sport begeistern wollen? Warum nicht für den Schießsport, der olympisch ist? Und welches Kindesleid gibt es auf Tennisplätzen oder in Eislaufarenen? Nein, ich lasse mir die Erinnerung an eine glückliche Kindheit nicht nehmen, wobei ich der Einzige bin, der sie mir bislang nehmen wollte, mit Ausnahme des Therapeuten, den ich später einmal aufgesucht habe, als ich Probleme bekam. Der sagte mir, ich solle aufhören, das alles so positiv sehen zu wollen. Ich bin nur ein paarmal hingegangen.
Als wir die Wohnung in Lichterfelde-West gekauft haben, waren unsere Kinder zwei und fünf Jahre alt. Wir lernten die Besitzer der drei anderen Wohnungen bei einem Kaffeetrinken in der ersten Etage kennen, auch den Besitzer des Souterrains, einen Reinigungsfachmann von knapp sechzig Jahren, der aussah, als könne er sich mehr leisten als ein düsteres Souterrain. Die anderen waren ältere Leute, die sagten, dass mal wieder Leben ins Haus kommen müsse, Kinder hätten hier schon lange nicht mehr gewohnt, sie waren nett, aber niemand sagte uns, dass der Besitzer des Souterrains nicht der Bewohner des Souterrains ist.
Vielleicht fragt man sich, warum ein Architekt eine Wohnung kauft und nicht ein Haus baut, zumal ich mich auf Einfamilienhäuser spezialisiert habe. Ich fürchte, sagen zu müssen, dass ich damals ein gewisses Unbehagen hatte bei diesem Gedanken, als könne es sein, dass jemandem wie mir das eigene Heim misslingt. Es war aber auch eine Geldfrage. Ein Haus, das ich nach meinen Vorstellungen bauen würde, kann ich mir nicht leisten. Ich weiß nur zu gut, wie traurig das ist, wenn große Ideen unter dem Diktat eines schmalen Etats schrumpfen. Bei den Einfamilienhäusern, die ich baue, kommen die Bauherren oft zu mir mit Ideen, für die sie eine Million Euro haben müssten, ohne Grundstück, sie wollen dreihundert Quadratmeter Wohnfläche und Halbgeschosse mit schönen Durchblicken, sie wollen das untere Viertel der Fassade mit Schiefer verkleiden, sie wollen in ihrem Schlafzimmer eine freistehende Badewanne aus Edelholz haben, aber die kostet allein neuntausend Euro und wird schon in der ersten Runde der Wahrheit gestrichen, und in den nächsten folgen dann der Schiefer und die Halbgeschosse, bis sie bei zweihundertzwanzig Quadratmetern auf zwei Etagen landen, und das kostet sie am Ende vierhundertfünfzigtausend Euro, ebenfalls ohne Grundstück, womit sie fünfzigtausend Euro über ihrem Etat liegen, aber das bekommen sie dann schon hin, die Bank schießt nach, oder die Eltern rücken einen Teil vom Erbe raus. Dafür ziehen meine Klienten in ein Haus, das in der Tradition der klassischen Moderne steht, mit ein paar Elementen des expressiven Zweigs, einer gerundeten Ecke vielleicht. Ich selbst möchte mir solche Orgien des Abspeckens ersparen.
Ich sah Herrn Tiberius zum ersten Mal, nachdem wir sechs Wochen in der neuen Wohnung gewohnt hatten. Meiner Frau war er schon häufig begegnet, er wirke seltsam, sei aber freundlich, hat sie zu mir gesagt. Was heißt seltsam, wollte ich wissen. Sie zuckte mit den Achseln. Ich vergaß ihn. Ich lernte Herrn Tiberius erst kennen, als ich einmal abends von der Arbeit nach Hause kam und versehentlich auf seinen Klingelknopf drückte. Er stieg die Treppe herauf und öffnete mir die Haustür, nein, so kann man es nicht sagen, in Wahrheit hat er sie aufgerissen. Zu mir wollen Sie ja wohl nicht, sagte er. Ich war verdattert, starrte ihn an und sagte nichts. Er war klein, er war dick, aber nicht von dieser schlaffen Leibesfülle, sondern straff dick. Er wirkte beweglich, elastisch, wie ein Turner, der in die Jahre gekommen ist, vierzig mochte er sein, vielleicht Ende dreißig. Er hatte einen großen Kopf, eine hohe Stirn und Haar, das ein bisschen aussah wie das von Elvis Presley, weil er es nach hinten gekämmt hatte. In seinen Augen funkelte etwas, das mir fremd war, auf Anhieb unheimlich. Ich kann nicht genau sagen, was es war, Schläue gehörte dazu, so viel ist gewiss, und Gereiztheit,
Weitere Kostenlose Bücher